Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
oder andere Problem zu lösen. Abgeordnete wurden oft von Wählern angesprochen, wenn sie sich von den Behörden, ihrem Arbeitgeber oder einem Nachbarn benachteiligt fühlten. Diese Arbeit war zeitaufwendig, aber sie brachte Stimmen.
Insgesamt konnte Lloyd nicht sagen, in welche Richtung die öffentliche Meinung neigte.
Nur ein Wähler erwähnte Daisy. Der Mann kam kauend an Lloyds Tisch. »Mein Name ist Perkinson«, sagte er mit vollem Mund. »Ihre Verlobte war eine Faschistin.«
Lloyd vermutete, dass Perkinson die Daily Mail gelesen hatte, in der ein gehässiger Artikel mit der Überschrift DER SOZIALIST UND DIE VISCOUNTESS abgedruckt gewesen war.
Lloyd nickte. »Sie hat sich kurzzeitig vom Faschismus täuschen lassen, wie viele andere.«
»Wie kann ein Sozialist eine Faschistin heiraten?«
Lloyd blickte sich um, entdeckte Daisy und winkte sie her. »Mr. Perkinson fragt mich gerade, ob meine Verlobte eine ehemalige Faschistin ist.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Perkinson.« Daisy schüttelte dem Mann die Hand. »Ich verstehe Ihre Besorgnis sehr gut. Mein erster Mann war in den Dreißigerjahren Faschist, und ich habe ihn unterstützt.«
Perkinson nickte. Vermutlich vertrat er die Ansicht, eine Frau solle die politischen Ansichten ihres Mannes übernehmen.
»Wie dumm wir waren«, fuhr Daisy fort. »Doch als der Kriegkam, trat mein erster Mann in die RAF ein und kämpfte genauso tapfer wie alle anderen gegen die Nazis.«
»Tatsache?«
»Letztes Jahr hat er über Frankreich eine Typhoon geflogen. Als er mit den Bordwaffen einen deutschen Truppentransportzug angegriffen hat, wurde er abgeschossen. Er kam bei dem Absturz ums Leben. Deshalb bin ich Kriegerwitwe.«
Perkinson schluckte sein Essen herunter. »Das tut mir leid.«
Doch Daisy war noch nicht fertig. »Ich habe den ganzen Krieg über in London gewohnt. Während der Luftangriffe habe ich einen Krankenwagen gefahren.«
»Sehr tapfer von Ihnen«, murmelte Perkinson.
»Nun, Mr. Perkinson, ich hoffe, Sie sind der Meinung, dass mein verstorbener Mann und ich unsere Schuld bezahlt haben.«
»Das weiß ich nicht«, sagte Perkinson mürrisch.
»Jedenfalls danke ich Ihnen, dass Sie mir Ihre Ansichten dargelegt haben«, sagte Lloyd. »Guten Abend.«
Als Perkinson davonging, meinte Daisy: »Ich glaube nicht, dass wir ihn auf unsere Seite ziehen konnten.«
»Das schaffst du nie«, erwiderte Lloyd. »Aber jetzt kennt er beide Seiten der Geschichte. Vielleicht ist er heute Abend, wenn er im Pub über uns redet, nicht mehr ganz so überzeugt.«
»Hmm.«
Lloyd spürte, dass es ihm nicht gelungen war, Daisy zu beruhigen.
Die Veranstaltung endete früh, denn am Abend sollte die erste Wahlkampfsendung von der BBC im Radio übertragen werden, und alle Parteisoldaten wollten sie sich anhören. Churchill hatte das Privileg, diese erste Sendung zu bestreiten.
Auf der Heimfahrt im Bus sagte Daisy: »Ich mache mir Sorgen. Ich gefährde deine Wahl.«
»Kein Kandidat ist perfekt«, sagte Lloyd. »Es kommt darauf an, wie man mit seinen Schwächen umgeht.«
»Ich möchte nicht deine Schwäche sein. Vielleicht sollte ich nicht öffentlich auftreten.«
»Im Gegenteil. Ich möchte, dass jeder von Anfang an alles weiß, was es über dich zu wissen gibt. Wenn du eine Gefahr darstellst, ziehe ich mich aus der Politik zurück.«
»Nein, nein! Mir wäre der Gedange unerträglich, dass du wegen mir deine Ambitionen aufgegeben hättest.«
»So weit wird es nicht kommen«, sagte Lloyd, merkte jedoch, dass es ihm schon wieder nicht gelungen war, Daisys Bedenken zu beschwichtigen.
In der Nutley Street saß Familie Leckwith in der Küche am Radio. Daisy hielt Lloyds Hand. »Ich bin viel hierhergekommen, als du weg warst«, sagte sie. »Wir haben Swing gehört und von dir gesprochen.«
Ihre Worte erfüllten Lloyd mit Freude und Dankbarkeit.
Churchills Ansprache begann. Die vertraute ruhige, ein wenig schleppende Stimme war aufmunternd. Fünf schlimme Jahre lang hatte diese Stimme den Menschen Kraft, Hoffnung und Mut geschenkt. Lloyd überkam ein Anflug von Verzweiflung: Sogar er war in Versuchung, für diesen Mann zu stimmen.
»Meine Freunde«, sagte der Premierminister, »ich muss Ihnen sagen, dass eine sozialistische Politik mit den britischen Vorstellungen von Freiheit unvereinbar ist.«
Gut, das war der übliche Rundumschlag. Alle neuen Ideen wurden als fremd und eingeschleppt verunglimpft. Doch was hatte Churchill den Menschen zu bieten? Labour hatte einen
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