Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Antwort abzuwarten.
Evie auf dem Arm, ging Lloyd nach unten ins Wohnzimmer und schaltete das Radio ein. Die Sendung hieß American Commentary . Der BBC -Korrespondent in Washington, Leonard Miall, berichtete von der Harvard University in Cambridge, Massachusetts. »Der Außenminister sagte vor den Absolventen, der Wiederaufbau Europas werde längere Zeit in Anspruch nehmen und größere Anstrengungen erfordern als ursprünglich vorgesehen.«
Das klingt doch gut, dachte Lloyd aufgeregt. »Leise, Evie, sei bitte leise«, sagte er, und ausnahmsweise wurde sie still.
Dann hörte Lloyd die tiefe, nüchterne Stimme von George C. Marshall. »In den nächsten drei bis vier Jahren übersteigt Europas Bedarf an Nahrung und anderen Dingen des täglichen Bedarfs – die vor allem aus Amerika kommen müssen – seine Zahlungsfähigkeit so sehr, dass ein bedenklicher wirtschaftlicher, sozialer und politischer Schaden nur durch erhebliche zusätzliche Finanzhilfe abgewendet werden kann.«
Lloyd war wie elektrisiert. »Erhebliche zusätzliche Finanzhilfe« war genau das, worum Bevin gebeten hatte.
»Das Heilmittel besteht darin, den Teufelskreis zu durchbrechen. Wir müssen den Europäern das Vertrauen in ihre wirtschaftliche Zukunft zurückgeben«, sagte Marshall. »Die Vereinigten Staaten sollten alles tun, was erforderlich ist, um weltweit zur Wiederherstellung ökonomischer Gesundheit beizutragen.«
»Er hat es getan!«, sagte Lloyd begeistert zu seiner verständnislosen kleinen Tochter. »Er hat Amerika aufgefordert, uns zu helfen! Aber wie weit? Auf welche Weise? Und wann?«
Die Stimme wechselte. Der Reporter sagte: »Der Außenminister hat keinen ausgearbeiteten Hilfsplan für Europa vorgelegt. Stattdessen sagte er, der Entwurf des Programms liege bei den Europäern.«
»Soll das heißen, wir haben freie Hand?«, fragte Lloyd seine Tochter.
Marshalls Stimme war wieder zu hören: »Die Initiative muss meiner Ansicht nach von Europa ausgehen.«
Der Bericht endete, und wieder klingelte das Telefon. »Haben Sie das gehört?«, fragte Bevin.
»Wie sollen wir das verstehen?«
»Fragen Sie nicht!«, rief Bevin. »Wenn Sie Fragen stellen, bekommen Sie Antworten, die Sie nicht mögen.«
»Also gut«, sagte Lloyd verdutzt.
»Ganz egal, was er gemeint hat – die Frage ist, was wir tun. Die Initiative muss von Europa ausgehen, sagte er. Das bedeutet, von Ihnen und mir.«
»Was kann ich tun?«
»Packen Sie einen Koffer«, sagte Bevin. »Wir fahren nach Paris.«
K A P I T E L 2 4
1948
Wolodja war als Mitglied einer Abordnung der Roten Armee in Prag, um Gespräche mit dem tschechoslowakischen Militär zu führen. Sie wohnten in der Art-déco-Pracht des Hotels Imperial.
Es schneite.
Wolodja vermisste Zoja und den kleinen Konstantin. Kotja war nun zwei Jahre alt und lernte fast täglich neue Wörter. Das Kind veränderte sich so schnell, dass es buchstäblich jeden Tag anders war. Und Zoja war wieder schwanger. Wolodja gefiel es gar nicht, zwei Wochen von seiner Familie getrennt zu sein. Die meisten Männer seiner Gruppe betrachteten die Reise als Gelegenheit, mal von ihren Frauen wegzukommen, Wodka zu trinken und sich vielleicht mit ein paar netten Damen zu vergnügen. Wolodja wollte einfach nur nach Hause.
Die Militärkonsultationen waren offiziell, doch Wolodjas eigentlicher Auftrag war geheim. Er sollte Berichte über die Aktivitäten der sowjetischen Geheimpolizei in Prag sammeln, der ständigen Rivalin des militärischen Nachrichtendienstes.
Wolodja brachte dieser Tage nur wenig Leidenschaft für seine Arbeit auf. Alles, wofür er je eingestanden hatte, war untergraben worden. Er glaubte nicht mehr an Stalin, den Kommunismus oder an das Gute im russischen Volk. Nicht einmal sein Vater war wirklich sein Vater. Er wäre sogar in den Westen übergelaufen, hätte er gewusst, wie er Zoja und Kotja aus der Sowjetunion hätte herausbringen können.
Doch seine Mission in Prag erfüllte er gerne. Hier konnte er endlich wieder etwas tun, woran er glaubte.
Vor zwei Wochen hatten die tschechischen Kommunisten die Kontrolle über die Regierung übernommen und ihre Koalitionspartner hinausgeworfen. Außenminister Jan Masaryk, ein Kriegsheld und demokratischer Antikommunist, war im obersten Stock seines Dienstsitzes, dem Palais Czernin, gefangen gesetzt worden. Ohne Zweifel steckte der NKWD hinter dem Coup. Tatsächlich befand sich Wolodjas Schwager, Oberst Ilja Dworkin, ebenfalls in Prag. Er wohnte sogar im selben
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