Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
fahren.«
Lloyd blickte nachdenklich drein. »Hast du das schon mit deinem Chef diskutiert?«
»Teufel, nein. Ich schwadroniere bloß ein bisschen. Aber warum eigentlich nicht?«
»Vielleicht schlage ich es Ernie Bevin vor.«
»Und ich George Marshall.« Greg nahm einen Schluck von seinem Drink. »Wodka ist das Einzige, was die Russen wirklich hinkriegen«, sagte er. »Und, wie geht es meiner Schwester?«
»Sie erwartet unser zweites Baby.«
»Wie ist Daisy denn so als Mutter?«
Lloyd lachte. »Du denkst wohl, sie ist schrecklich.«
Greg zuckte mit den Schultern. »Ich habe sie nie als den häuslichen Typ betrachtet.«
»Sie ist ruhig, geduldig und geordnet.«
»Sie hat keine sechs Kindermädchen, die ihr die ganze Arbeit abnehmen?«
»Nur eins, damit sie mich abends begleiten kann. Meist gehen wir zu politischen Kundgebungen.«
»Wow, offenbar ist sie ein anderer Mensch geworden.«
»Nicht ganz. Sie liebt noch immer Partys. Was ist mit dir? Bist du noch alleinstehend?«
»Es gibt da ein Mädchen namens Nelly Fordham, bei der ich ziemlich ernste Absichten hege. Und dass ich ein Patenkind habe, weißt du schon, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Lloyd. »Daisy hat mir alles über den Jungen erzählt. Georgy.«
Greg war sich ziemlich sicher, dass Lloyd wusste, wer Georgys Vater war; er merkte es an seinem leicht verlegenen Gesichtsausdruck. »Ich mag ihn sehr.«
»Das ist großartig.«
Ein Mitglied der russischen Delegation kam an die Theke, und Greg begegnete seinem Blick. Der Mann hatte etwas Vertrautes an sich. Er war Anfang dreißig und sah trotz des brutal kurzen militärischen Haarschnitts ziemlich gut aus. Seine blauen Augen wirkten ein wenig einschüchternd. Er nickte freundlich, und Greg fragte: »Kennen wir uns irgendwoher?«
»Vielleicht«, antwortete der Russe. »Ich bin in Deutschland zur Schule gegangen. Auf das Leopold-von-Ranke-Gymnasium in Berlin.«
Greg schüttelte den Kopf. »Waren Sie je in den Staaten?«
»Nein.«
Lloyd sagte: »Das ist doch der Mann mit dem gleichen Nachnamen wie du – Wolodja Peschkow.«
Greg stellte sich vor. »Wir könnten verwandt sein. Mein Vater, Lev Peshkov, ist 1914 ausgewandert. Er hat eine schwangere Freundin zurückgelassen, die dann seinen älteren Bruder geheiratet hat, Grigori Peschkow. Könnten wir Halbbrüder sein?«
Wolodjas Freundlichkeit war mit einem Mal wie weggewischt. »Ganz sicher nicht«, erwiderte er. »Entschuldigen Sie mich.« Er verließ das Lokal, ohne etwas bestellt zu haben.
»Der war aber kurz angebunden«, meinte Greg.
»Allerdings.«
»Er sah richtig erschrocken aus.«
»Vielleicht hast du was Falsches gesagt.«
Das kann nicht wahr sein, dachte Wolodja.
Greg behauptete, dass Grigori ein Mädchen geheiratet habe, das bereits von Lew schwanger gewesen war. Sollte das der Fall sein, dann wäre der Mann, den Wolodja zeit seines Lebens »Vater« genannt hatte, in Wahrheit sein Onkel.
Vielleicht war das ja Zufall. Oder der Amerikaner wollte einfach nur Ärger machen.
Aber wie auch immer, Wolodja war zutiefst schockiert.
Er kehrte zur üblichen Zeit nach Hause zurück. Er und Zoja hatten rasch Karriere gemacht, und nun hatten sie eine Wohnung im selben luxuriösen Häuserblock wie seine Eltern. Grigori und Katherina kamen zum Abendessen, wie meistens. Katherina badete ihren Enkelsohn; dann sang Grigori ihm etwas vor und erzählte ihm ein russisches Volksmärchen. Kotja war neun Monate alt und sprach noch nicht, aber ihm schienen die Märchen trotzdem zu gefallen.
Wolodja durchlebte den abendlichen Trott wie in Trance. Er versuchte, sich so normal wie möglich zu benehmen, doch es fiel ihm schwer, mit seinen Eltern zu reden. Er glaubte Gregs Geschichte zwar nicht, aber sie ging ihm auch nicht aus dem Kopf.
Als Kotja schließlich schlief und die Großeltern gerade gehen wollten, fragte Grigori: »Was ist los, Wolodja? Habe ich ein Furunkel auf der Nase?«
»Nein.«
»Warum hast du mich dann den ganzen Abend so angestarrt?«
Wolodja beschloss, ihm die Wahrheit zu sagen. »Ich habe einen Mann namens Greg Peshkov kennengelernt. Er gehört zur amerikanischen Delegation. Er glaubt, dass wir verwandt sind.«
»Das ist durchaus möglich.« Grigori wirkte gelöst, als sei das ohne Bedeutung, doch Wolodja sah, dass sein Hals rot wurde, bei ihm ein typisches Zeichen für Anspannung. »Ich habe meinen Bruder zuletzt 1919 gesehen. Seit damals habe ich nichts mehr von ihm gehört.«
»Gregs Vater heißt Lew, und Lew hatte einen
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