Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
noch faszinierender als Autos und Rennboote. Zuerst hatte er sich für gleichaltrige oder etwas jüngere Mädchen interessiert, und Joanne hatte ihn immer als Kind behandelt – als kluges Kind zwar, mit dem man ab und zu ein Wort wechselte, aber ganz gewiss nicht als möglichen festen Freund. Doch seit diesem Sommer betrachtete er sie plötzlich als das verlockendste Mädchen der Welt, ohne dass er einen Grund dafür hätte nennen können. Leider hatten Joannes Gefühle für ihn keine ähnliche Transformation durchlaufen.
Noch nicht.
Großmama richtete eine Frage an Woodys Bruder. »Wie geht es in der Schule, Chuck?«
»Schrecklich, aber das weißt du ja. Ich bin der Familientrottel, ein atavistischer Rückfall in die Zeit unserer Vorfahren, der Schimpansen.«
»Trottel benutzen meiner Erfahrung nach keine Wörter wie ›atavistisch‹ oder wissen von der Evolution. Bist du sicher, dass Faulheit keine Rolle spielt?«
Rosa ergriff das Wort. »Chucks Lehrer sagen, dass er sich in der Schule größte Mühe gibt, Mama.«
»Und mich schlägt er beim Schach«, fügte Gus hinzu.
»Dann möchte ich wirklich wissen, woran es liegt«, beharrte Großmama. »Wenn er so weitermacht, kommt er nicht nach Harvard.«
»Ich lese bloß langsam, das ist alles«, sagte Chuck.
»Es ist wirklich seltsam«, murmelte Großmama. »Mein Schwiegervater, dein Urgroßvater väterlicherseits, war der erfolgreichste Bankier seiner Generation, dabei konnte er kaum lesen und schreiben.«
»Das wusste ich noch gar nicht«, sagte Chuck.
»So war es. Aber benutze mir das bloß nicht als Ausrede. Du musst noch härter arbeiten.«
Gus blickte auf die Uhr. »Wenn du so weit bist, Mama, sollten wir aufbrechen.«
Endlich stiegen sie in den Wagen und fuhren zum Club. Papa hatte einen Tisch reserviert und die Renshaws eingeladen. Woody blickte sich um, konnte Joanne zu seiner Enttäuschung aber nirgendwo erblicken. Auf einer Staffelei im Foyer stand ein Tischplan. Als Woody ihn sich ansah, entdeckte er zu seiner Bestürzung, dass es keinen Rouzrokh-Tisch gab. Kamen sie gar nicht? Das würde ihm den ganzen Abend verderben.
Bei Hummer und Steak drehte sich das Tischgespräch um die Ereignisse in Deutschland. Philip Renshaw äußerte die Ansicht, Hitler leiste gute Arbeit. Woodys Vater entgegnete: »Heute stand im Sentinel , dass die Nazis einen katholischen Priester eingesperrt haben, weil er sie kritisiert hat.«
»Sind Sie Katholik?«, fragte Mr. Renshaw überrascht.
»Nein, ich gehöre einer Episkopalkirche an.«
»Hier geht es nicht um Religionszugehörigkeit, Philip«, sagte Rosa, »sondern um Freiheit.« In ihrer Jugend war Woodys Mutter Anarchistin gewesen, und im Grunde ihres Herzens war sie stets libertär geblieben.
Als die Dewars beim Dessert saßen, trafen immer mehr Gäste ein. Woody hielt nach Joanne Ausschau. Im Nachbarraum stimmte die Band The Continental an, einen Hit aus dem vergangenen Jahr.
Woody konnte nicht sagen, was an Joanne ihn so sehr in Bann geschlagen hatte. Die meisten Leute hätten sie nicht als Schönheit bezeichnet, auch wenn sie bezaubernd war. Mit ihren hohen Jochbeinen und der Messerklingennase ihres Vaters sah sie wie eine Aztekenkönigin aus. Ihr dichtes Haar war dunkel, und ihre Haut besaß einen Olivton, den sie zweifellos ihren persischen Vorfahren verdankte. Eine Aura des Geheimnisvollen umgab sie, die in Woody den Wunsch weckte, mehr über sie zu erfahren.
»Suchst du jemanden, Woody?«, fragte Großmama, der kaum etwas entging.
Chuck kicherte wissend.
»Ich wollte nur sehen, wer zum Tanz kommt«, antwortete Woody beiläufig, doch gegen seinen Willen errötete er.
Als sie schließlich den Tisch verließen, war Joanne noch immer nicht erschienen. Todtraurig ging Woody zu den Klängen von Benny Goodmans Moonglow in den Ballsaal – als er Joanne plötzlich entdeckte. Augenblicklich hellte seine Stimmung sich auf.
An diesem Abend trug Joanne ein aufregend schlichtes silbergraues Seidenkleid mit tiefem V-Ausschnitt, das viel von ihrer Figur enthüllte. Schon in ihrem Tennisrock, der ihre langen braunen Beine zeigte, hatte sie umwerfend ausgesehen, aber jetzt verschlug es Woody schier den Atem. Als er beobachtete, wie anmutig und selbstsicher sie durch den Saal schritt, wurde ihm die Kehle trocken.
Er ging in ihre Richtung, doch der Ballsaal hatte sich gefüllt, und Woody wurde von allen Seiten angesprochen. Fast jeder schien mit ihm reden zu wollen. Während er sich durch die Menge schob, sah er zu
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