Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
seinem Erstaunen den langweiligen alten Charlie Farquharson, der mit der lebenslustigen Daisy Peshkov tanzte. Woody konnte sich nicht erinnern, Charlie jemals tanzen gesehen zu haben, ganz zu schweigen mit einer Schönheit wie Daisy. Wie hatte sie ihn aus seinem Schneckenhaus gelockt?
Als er Joanne erreichte, stand sie am anderen Ende des Saals, so weit wie möglich von der Band entfernt. Zu Woodys Verdruss war sie in ein Gespräch mit jungen Männern vertieft, die vier oder fünf Jahre älter waren als er. Zum Glück war er größer als die meisten von ihnen, und der Unterschied fiel nicht allzu sehr auf. Sie alle hielten Colagläser in der Hand, aber Woody roch Scotch: Einer von ihnen musste eine Flasche in der Tasche haben.
Als er sich zu ihnen stellte, hörte er, wie Victor Dixon sagte: »Niemand ist für das Lynchen, aber man muss sich klarmachen, was für Probleme die Leute in den Südstaaten haben.«
Woody wusste, dass Senator Wagner einen Gesetzesantrag eingebracht hatte, um Sheriffs bestrafen zu können, die Lynchjustiz zuließen, doch Präsident Roosevelt hatte ihm seine Unterstützung versagt.
Joanne war empört. »Wie kannst du so etwas sagen, Victor? Lynchen ist Mord! Es geht nicht darum, dass wir ihre Probleme verstehen, wir müssen diese Leute daran hindern, andere Menschen zu ermorden!«
Es freute Woody, dass Joanne seine politischen Ansichten teilte. Nur konnte er sie in dieser Situation leider nicht um einen Tanz bitten.
»Du begreifst nicht, Joanne, Süße«, sagte Victor herablassend. »Die Südstaatenneger sind unzivilisiert.«
»Unzivilisiert sind die Menschen, die Lynchmorde begehen«, erwiderte Joanne.
Woody sagte sich, dass der richtige Augenblick gekommen sei, um seinen Beitrag zur Diskussion zu leisten. »Joanne hat recht«, sagte er und versuchte, mit tieferer Stimme zu sprechen, damit er älter klang. »In der Heimatstadt unserer Haushaltshilfen Joe und Betty, die sich von klein auf um mich und meinen Bruder gekümmert haben, hat es einen Lynchmord gegeben. Bettys Cousin wurde nackt ausgezogen und mit einem Schweißbrenner gefoltert, während die Leute zuschauten. Dann haben sie ihn aufgehängt.«
Victor funkelte ihn an, wütend auf den Jungen, der ihm Joannes Aufmerksamkeit stahl. Die anderen lauschten Woody mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen. »Mir ist es egal, was er verbrochen hat«, sagte er. »Die Weißen, die ihm das angetan haben, das sind die Barbaren.«
»Dein geliebter Präsident Roosevelt hat das Antilynchgesetz aber nicht unterstützt«, sagte Victor.
»Stimmt, und das hat mich sehr enttäuscht«, entgegnete Woody. »Ich weiß aber, warum der Präsident sich so entschieden hat. Er hatte Angst, Kongressabgeordnete aus den Südstaaten könnten aus Rache seine Politik des New Deal sabotieren. Mir wäre lieber, Roosevelt hätte ihnen gesagt, sie sollen sich zum Teufel scheren.«
»Was weißt du denn schon?«, versetzte Victor. »Du bist ja noch ein Kind.« Er nahm eine silberne Flasche aus der Jacketttasche und füllte sein Glas nach.
»Woodys politische Ansichten sind erwachsener als deine, Victor«, sagte Joanne.
Woody glühte innerlich. »Politik ist gewissermaßen unser Familiengeschäft …« Als ihn jemand am Ellbogen zupfte, drehte er sich um und sah Charlie Farquharson vor sich, schweißüberströmt von seinen Anstrengungen auf dem Tanzboden.
»Kann ich dich kurz sprechen?«
Woody hätte ihm am liebsten gesagt, er solle verschwinden, ließ es dann aber. Charlie war ein netter Kerl. Und wer eine Mutter hatte wie er, musste einem leidtun. »Was ist denn los, Charlie?«, fragte er mit so viel Wohlwollen, wie er aufbringen konnte.
»Es geht um Daisy.«
»Ich habe gesehen, wie du mit ihr getanzt hast.«
»Ist sie nicht eine tolle Tänzerin?«
Woody hatte es zwar nicht bemerkt, antwortete jedoch aus Freundlichkeit: »Jede Wette.«
»Sie ist in allen Dingen toll.«
Woody bemühte sich, einen ungläubigen Tonfall zu vermeiden. »Sag mal, gehst du mit Daisy?«
Charlie blickte verschämt drein. »Wir sind ein paarmal im Park ausgeritten.«
»Also machst du ihr den Hof!« Woody war überrascht. Die beiden passten gar nicht zusammen. Charlie war ein Klotz, Daisy ein Püppchen.
»Sie ist nicht wie die anderen Mädchen«, sagte Charlie. »Man kann sich mit ihr unterhalten. Und sie mag Pferde und Hunde. Nur dass die Leute ihren Vater für einen Gangster halten …«
»Er ist wirklich einer, Charlie. Während der Prohibition hat jeder seinen
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