Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
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Er folgte Betty, dem Dienstmädchen, in die Zimmer seiner Großmutter, als Betty ihr das Frühstück hineintrug. Ursula saß bereits im Bett. Sie trug einen Spitzenschal über ihrem champignonfarbenen Nachthemd.
»Guten Morgen, Woodrow!«, sagte sie überrascht.
»Ich würde gern eine Tasse Kaffee mit dir trinken, wenn ich darf, Großmama.« Er hatte Betty bereits gebeten, zwei Tassen zu bringen.
»Es ist mir ein Vergnügen«, sagte Ursula.
Betty war eine grauhaarige, vollschlanke Frau um die fünfzig. Sie setzte das Tablett vor Großmama ab, und Woody goss Kaffee in die Tassen aus Meißener Porzellan.
Er hatte sich genau überlegt, was er sagen würde, und sich seine Argumente zurechtgelegt. Die Prohibition sei vorüber, würde er anführen, und Lev Peshkov sei nun ein ehrlicher Geschäftsmann. Außerdem sei es nicht fair, Daisy dafür zu bestrafen, dass ihr Vater gegen das Gesetz verstoßen hatte, zumal die meisten geachteten Familien in Buffalo Lev Peshkovs illegalen Schnaps gekauft hätten.
»Kennst du Charlie Farquharson?«, begann er.
»Ja.«
Natürlich kannte sie ihn. Ursula kannte jede Familie aus dem Buffaloer »Adelskalender«.
»Möchtest du gern eine Scheibe Toast, Woodrow?«
»Nein, danke, Großmama, ich habe schon gefrühstückt.«
»Jungen in deinem Alter haben doch ständig Hunger.« Sie musterte ihn eingehend. »Es sei denn, sie sind verliebt.«
Heute Morgen war sie wirklich gut in Form.
»Charlie steht in gewisser Weise unter dem Pantoffel seiner Mutter«, sagte Woody.
»Oh, das ist schon ihrem Mann so ergangen. Er vegetierte regelrecht dahin. Befreien konnte er sich nur, indem er starb.« Sie trank einen Schluck Kaffee und machte sich mit einer Gabel über die Grapefruit her.
»Charlie ist gestern Abend zu mir gekommen. Ich soll dich für ihn um einen Gefallen bitten.«
Ursula zog eine Braue hoch, sagte aber nichts.
Woody atmete tief ein. »Er bittet dich, Mrs. Peshkov in den Buffaloer Damenclub aufzunehmen.«
Ursula legte die Gabel ab. Das Silber klirrte auf das feine Porzellan. Als wollte sie Fassungslosigkeit überspielen, bat sie: »Würdest du mir bitte Kaffee nachschenken, Woodrow?«
Woody gehorchte schweigend. Er konnte sich nicht erinnern, seine Großmutter jemals durcheinander erlebt zu haben.
Ursula führte die Kaffeetasse an den Mund und trank einen Schluck ab. »Warum, in Gottes Namen, will Charlie Farquharson, dass Olga Peshkov dem Damenclub angehört?«
»Er möchte Daisy heiraten.«
»So?«
»Und er fürchtet, seine Mutter könnte etwas dagegen haben.«
»Da liegt er bestimmt nicht falsch.«
»Aber er glaubt, er kann sie vielleicht überreden …«
»Wenn ich Olga in den Damenclub aufnehme.«
»Ja. Dann vergessen die Leute möglicherweise, dass ihr Vater ein Gangster war.«
»Ein Gangster?«
»Na ja, zumindest ein Alkoholschmuggler.«
»Ach, das«, erwiderte Ursula wegwerfend. »Darum geht es nicht.«
»Nein?« Nun war es an Woody, erstaunt zu sein. »Um was dann?«
Ursula musterte ihn nachdenklich. Sie schwieg so lange, dass Woody sich schon fragte, ob sie ihn vergessen hatte. Schließlich sagte sie: »Dein Vater war mal in Olga Peshkov verliebt.«
»Heiliges Kanonenrohr!«
»Woodrow! Sei nicht vulgär.«
»Entschuldige, Großmutter, aber du hast mich ganz schön überrascht.«
»Sie waren verlobt und wollten heiraten.«
»Verlobt?«, fragte Woody erstaunt. Er überlegte kurz. »Ich bin wohl der Einzige in Buffalo, der nichts davon gewusst hat, oder?«
Sie lächelte ihn an. »Es gibt eine ganz besondere Mischung aus Klugheit und Unschuld, die nur Heranwachsende besitzen. Dein Vater hatte sie, und jetzt sehe ich sie bei dir. Ja, es stimmt, jeder inBuffalo weiß davon, auch wenn deine Generation es ohne Zweifel als langweilige alte Geschichte abtut.«
»Was ist denn passiert?«, fragte Woody. »Ich meine, wer hat die Verlobung gelöst?«
»Sie. Indem sie schwanger wurde.«
Woody fiel die Kinnlade herunter. »Von Papa?«
»Nein, von ihrem Chauffeur, Lev Peshkov.«
»Ihrem Chauffeur?« Ein Schock jagte den anderen. Woody schwieg; er musste das alles erst einmal verarbeiten. Schließlich sagte er: »Meine Güte, Papa muss sich wie ein Trottel vorgekommen sein.«
»Dein Vater war nie ein Trottel«, wies Ursula ihn zurecht. »Bis auf dieses eine Mal, als er Olga einen Antrag gemacht hat.«
Woody ermahnte sich, an seine Mission zu denken. »Nun ja, Großmama, das alles ist schrecklich lang her …«
»Lange. Lang bezieht sich auf
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