Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
die Strecke, lange auf den zeitlichen Abstand. Aber dein Urteilsvermögen ist besser als deine Grammatik. Es liegt wirklich lange zurück.«
Das hörte sich an, als wäre nicht alle Hoffnung verloren. »Dann darf Olga also in den Damenclub?«
»Was meinst du, was dein Vater dabei empfände?«
Woody dachte nach. Er konnte Großmutter nichts vormachen – sie würde ihn binnen eines Herzschlags durchschauen. »Ich nehme an, es wäre ihm peinlich, weil Olga ihn ständig an eine demütigende Episode in seiner Jugend erinnern würde.«
»Da vermutest du richtig.«
»Aber Vater ist es sehr wichtig, sich anderen Menschen gegenüber fair zu verhalten. Er verabscheut Ungerechtigkeit. Er würde Daisy nicht für etwas bestrafen wollen, an dem ihre Mutter schuld ist. Und Charlie erst recht nicht. Papa hat ein großes Herz.«
»Größer als das meine, willst du damit wohl sagen.«
»So habe ich es nicht gemeint, Großmama. Aber ich wette, wenn du ihn fragst, hätte er nichts dagegen, wenn Olga dem Damenclub beitritt.«
Ursula nickte. »Das sehe ich auch so. Ich frage mich nur, ob du begriffen hast, wer wirklich hinter diesem Ansinnen steckt.«
Woody erkannte, worauf sie hinauswollte. »Du meinst, Daisy hätte Charlie auf die Idee gebracht? Das würde mich nicht überraschen. Aber das ändert doch nichts an der grundsätzlichen Frage, ob es richtig und falsch ist, Olga in den Damenclub aufzunehmen.«
Großmutter lächelte. »Du bist ein kluger junger Mann.«
»Dann darf Olga also in den Club?«
»Ich freue mich, dass mein Enkelsohn ein freundliches Herz hat … auch wenn ich den Verdacht habe, dass er eine Schachfigur im Spiel eines cleveren, ehrgeizigen Mädchens ist.«
Woody lächelte. »Heißt das ja, Großmama?«
»Ich kann dir nichts versprechen, aber ich werde Olga dem Mitgliederkomitee vorschlagen.«
Woody atmete innerlich auf. Die Vorschläge seiner Großmutter wurden von den anderen Damen als königliche Befehle aufgefasst. »Danke, Großmama. Du hast ein gutes Herz.«
»Nun gib mir einen Kuss und mache dich fertig für die Kirche.«
Woody trat die Flucht an.
Schon bald hatte er Charlie und Daisy vergessen. In der St. Paul’s Cathedral am Shelton Square hörte er der Predigt gar nicht zu – es ging um Noah und die Sintflut – und dachte stattdessen an Joanne Rouzrokh. Ihre Eltern waren in der Kirche, sie selbst nicht. Ob sie wirklich zu der Kundgebung ging? Falls ja, würde er sie bitten, mit ihm auszugehen. Aber würde sie Ja sagen?
Joanne war zu intelligent, um sich wegen des Altersunterschieds Gedanken zu machen, da war Woody sicher. Sie wusste garantiert, dass sie mit ihm mehr gemein hatte als mit Holzköpfen vom Schlage eines Victor Dixon. Und dieser Kuss! Er kitzelte ihm noch immer auf den Lippen. Und was sie mit ihrer Zunge gemacht hatte … Er wollte es bei der ersten Gelegenheit wieder versuchen.
Aber wenn sie einverstanden war, mit ihm zu gehen, was würde dann im September passieren? Joanna ging aufs Vassar College in Poughkeepsie. Er, Woody, müsste an die Schule zurück und würde sie bis Weihnachten nicht wiedersehen. Das Vassar College war zwar eine reine Mädchenschule, aber in Poughkeepsie gab es Männer. Würde Joanne sich mit anderen Jungs verabreden? Woody war jetzt schon eifersüchtig.
Draußen vor der Kirche eröffnete er seinen Eltern, dass er nicht zum Mittagessen mit nach Hause kommen werde; er wolle zum Protestmarsch.
»Ja, geh nur«, bestärkte ihn seine Mutter. Als junges Mädchen war sie Herausgeberin des Buffalo Anarchist gewesen. Sie wandte sich ihrem Mann zu. »Du solltest auch mitgehen.«
»Die Gewerkschaft hat Anzeige erstattet«, erwiderte Gus. »Du weißt, dass ich dem Gerichtsurteil nicht vorgreifen darf.«
Sie wandte sich wieder an Woody. »Lass dich nicht von Lev Peshkovs Schlägern verprügeln.«
Woody holte seine Kamera aus dem Kofferraum des Familienautos, eine Leica III , die so klein war, dass er sie an einem Riemen um den Hals tragen konnte. Trotzdem ermöglichte sie Verschlusszeiten bis hinunter zu einer Fünfhundertstelsekunde.
Er ging ein paar Häuserblocks weit zum Niagara Square, wo der Aufmarsch beginnen sollte. Lev Peshkov hatte auf die Stadtverwaltung eingewirkt, die Kundgebung mit dem Argument zu verbieten, dass sie zu Ausschreitungen führen könne, aber die Gewerkschaft hatte garantiert, dass alles friedlich verlaufen würde. Offenbar hatte die Gewerkschaft sich durchgesetzt, denn mehrere Hundert Menschen schoben sich vor dem Rathaus hin
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