Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
würde ich ja gern, Woody, aber du bist erst fünfzehn.«
»Gestern Abend hast du gesagt, ich bin reifer als Victor Dixon.«
»Mit dem würde ich auch nicht ausgehen.«
Es schnürte Woody die Kehle zu, und seine Stimme klang mit einem Mal heiser. »Gibst du mir einen Korb?«
»Und ob. Ich will nicht mit jemandem ausgehen, der drei Jahre jünger ist als ich.«
»Kann ich dich in drei Jahren noch mal fragen? Dann sind wir im gleichen Alter.«
Sie lachte. »Lass deine dummen Scherze, davon bekomme ich Kopfschmerzen.«
Doch Woody hatte nicht vor, seine Kränkung zu verbergen. Was hatte er zu verlieren? Gequält fragte er: »Und was hatte der Kuss zu bedeuten?«
»Nichts.«
Er schüttelte den Kopf. »Mir hat er etwas bedeutet. Es war der beste Kuss meines Lebens.«
»Oje, ich wusste gleich, dass es ein Fehler war. Hör mal, es war nur Spaß. Klar, ich hab’s genossen – fühl dich ruhig geschmeichelt, du hast es dir verdient. Du bist ein netter, kluger Junge, aber ein Kuss ist nun mal keine Liebeserklärung, ganz gleich, wie sehr du ihn genießt.«
Mittlerweile gingen sie fast an der Spitze des Zuges, und Woody sah ihr Ziel vor sich: die hohe Mauer um die Buffalo Metal Works. Das Tor war geschlossen und wurde von ungefähr einem Dutzend Werkschutzleuten bewacht, Schlägertypen in hellblauen Hemden, die wie Polizeiuniformen aussahen.
»Und betrunken war ich auch«, fügte Joanne hinzu.
»Ich ebenfalls.«
Woodys Versuch, seine Würde zu bewahren, fiel ziemlich erbärmlich aus, doch Joanne erwies ihm die Gnade, so zu tun, als glaubte sie ihm. »Dann haben wir beide eine kleine Dummheit begangen und sollten es einfach vergessen.«
»Ja«, sagte Woody und blickte weg.
Sie waren nun vor der Gießerei angelangt. Die Marschierer an der Spitze des Zuges blieben stehen, und jemand begann durch ein Megafon mit einer Ansprache. Als Woody genauer hinsah, erkannte er Brian Hall, einen Buffaloer Gewerkschaftsführer. Woodys Vater kannte und mochte den Mann: Irgendwann in ferner Vergangenheit hatten sie gemeinsam einen Streik beigelegt.
Das Ende des Zuges rückte nach, und auf der gesamten Straßenbreite drängten sich immer mehr Menschen. Die Werkschutzleute hielten den Bereich vor dem Eingang frei, obwohl die Tore geschlossen waren. Erst jetzt sah Woody, dass sie mit Schlagstöcken bewaffnet waren, wie auch die Polizei sie besaß. Ein Werkschutzmann brüllte: »Bleibt vom Tor weg! Das hier ist Privatgelände!« Woody hob seine Kamera und schoss ein Foto.
Die Demonstranten in den vorderen Reihen wurden von den Nachrückenden immer weiter nach vorn gedrängt. Woody nahmJoanne beim Arm und versuchte sie aus dem schlimmsten Gedränge wegzuziehen, was sich jedoch als schwierig erwies: Die Menschen standen Schulter an Schulter, und niemand wollte ihnen den Weg frei machen. Gegen seinen Willen geriet Woody immer näher ans Fabriktor und die Wachleute mit den Schlagstöcken. »Das sieht nicht gut aus«, sagte er zu Joanne.
Doch sie rief kampflustig: »Diese Kerle können uns nicht aufhalten!«
»Richtig!«, brüllte ein Mann neben ihr. »Verdammt richtig!«
Die Menge stand immer noch zehn Yards vom Tor entfernt; dennoch stießen die Wachleute die Protestierenden unnötigerweise weg. Woody fotografierte sie dabei.
Brian Hall hatte durch seine Flüstertüte laut über die tyrannischen Bosse geschimpft und anklagend den Finger auf die Werkschutzleute gerichtet. Jetzt änderte er den Ton und rief zu Besonnenheit auf. »Bitte geht vom Tor weg, Leute!«, bat er. »Weicht zurück! Keine Gewalt!«
Woody sah, wie ein Wachmann eine Frau so hart zurückstieß, dass sie taumelte. Sie stürzte nicht, schrie aber auf. Der Mann, der sie begleitete, fuhr den Wachmann an: »He, Kumpel, mach halblang, ja?«
»Willst du Streit anfangen?«, fragte der Wachmann herausfordernd.
»Hört doch einfach auf, uns zu stoßen!«, rief die Frau.
»Zurück! Zurück mit euch!«, brüllte der Wachmann und drosch mit dem Schlagstock auf die Frau ein. Woody schoss ein Foto von der Szene.
»Der Mistkerl hat die Frau geschlagen!«, rief Joanne und machte einen Schritt vor.
Ein großer Teil der Protestierenden wollte zurückweichen, fort von der Gießerei, doch als sie sich umdrehten, stürzten die Wachleute ihnen hinterher, stießen, traten und prügelten mit den Schlagstöcken.
»Es gibt keinen Grund, Gewalt anzuwenden!«, rief Brian Hall. »Werkschutzleute, haltet euch zurück! Setzt eure Knüppel nicht ein!« Dann wurde ihm das Megafon von einem
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