Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
sich zum Dinner umzukleiden, brachte ein Hausmädchen namens Ruby heimlich zwei Abendanzüge in das Zimmer, das Daisy mit Eva teilte. Gestern hatte Ruby unter schlimmen Zahnschmerzen gelitten; deshalb hatte Daisy ihr Geld für den Arzt gegeben, und Ruby hatte sich den Zahn ziehen lassen. Jetzt funkelten ihre Augen vor Aufregung.
»Hier, bitte, Ladys!«, sagte sie. »Sir Bartholomews Anzug sollte klein genug für Sie sein, Miss Peshkov, und Mr. Andrew Fitzherberts Sachen müssten Miss Rothmann passen.«
Daisy zog sich das Kleid aus und streifte das Hemd über. Ruby half ihr bei den unvertrauten Kragen- und Manschettenknöpfen. Dann stieg Daisy in Bing Westhamptons Hose, schwarz mit Satinstreifen an den Beinen. Sie stopfte ihren Unterrock hinein und zog sich die Hosenträger über die Schultern. Als sie den Hosenschlitz zuknöpfte, kam sie sich sehr wagemutig vor.
Keines der Mädchen konnte eine Krawatte binden; deshalb wirkte das Ergebnis auffallend schlaff. Doch Daisy kam die rettende Idee. Mit einem Augenbrauenstift malte sie sich einen Schnurrbart.
»Das ist großartig!«, rief Eva. »Du siehst ja noch schöner aus!« Daisy strichelte Eva einen Backenbart auf die Wangen.
Die fünf jungen Frauen trafen sich im Schlafzimmer der Zwillinge. Daisy schlenderte auf so männlich-schwungvolle Art herein, dass die anderen kicherten.
Dann sprach May die Sorge aus, die auch Daisy ein wenig zu schaffen machte: »Hoffentlich bekommen wir deswegen keinen Ärger.«
»Ach, wen kümmert das?«, erwiderte Lindy.
Daisy beschloss, ihre Befürchtungen zu ignorieren und Spaß zu haben, und so ging sie den anderen voran in den Salon.
Sie waren die Ersten, die eintrafen; noch war niemand sonst erschienen. Daisy erinnerte sich an eine Bemerkung Boy Fitzherberts gegenüber dem Butler und sagte mit tiefer, schleppender Männerstimme: »Schenken Sie mir einen Whisky ein, Grimshaw, seien Sie so gut. Der Champagner schmeckt wie Pisse.« Die anderen quietschten vor Vergnügen.
Dann erschienen Bing und Fitz. Bing in seiner weißen Weste erinnerte Daisy an eine Bachstelze, einen frechen, schwarz-weißen Vogel. Fitz war ein gut aussehender Mann mittleren Alters, in dessen dunkles Haar sich ein wenig Weiß mischte. Aufgrund seiner Kriegsverletzungen hinkte er leicht, und ein Augenlid hing schlaff herab, doch diese Beweise für seinen Mut in der Schlacht machten ihn umso attraktiver.
Fitz erblickte die Mädchen und musste zweimal hinsehen. »Gütiger Gott!« Es klang streng und missbilligend.
Daisy durchlitt einen Augenblick grenzenloser Panik. Hatte sie alles verdorben? Die Engländer konnten entsetzlich prüde sein, das wusste schließlich jeder. Würde man sie auffordern, das Haus zu verlassen? Wie schrecklich das wäre! Dot Renshaw und Nora Farquharson würden sich vor Schadenfreude gar nicht mehr einkriegen, wenn sie, Daisy, in Schimpf und Schande nach Hause käme. Lieber würde sie sterben.
Bing aber platzte beinahe vor Lachen. »Meine Güte, das ist wirklich gut«, prustete er. »Sehen Sie sich das an, Grimshaw.«
Der alte Butler, der soeben mit einer Flasche Champagner in einem silbernen Eiskübel den Salon betrat, bedachte die Mädchen mit steinernem Blick. In vernichtend unaufrichtigem Tonfall sagte er: »Höchst amüsant, Sir Bartholomew.«
Bing betrachtete die Mädchen weiter mit einem Entzücken, in das sich Begehrlichkeit mischte. Daisy begriff – zu spät –, dass man manchen Männern fälschlich ein gewisses Maß an sexueller Freizügigkeit und Experimentierfreudigkeit andeutete, wenn man sich als das andere Geschlecht verkleidete. Offenbar konnte man dabei in ziemliche Schwulitäten geraten.
Während sich die Gesellschaft zum Abendessen versammelte, schlossen sich die meisten Gäste dem Vorbild des Gastgebers anund behandelten den Streich der Mädchen als amüsante Albernheit. Daisy merkte jedoch sehr genau, dass nicht alle gleichermaßen entzückt waren. Ihre Mutter erbleichte vor Furcht, als sie die Mädchen sah, und setzte sich rasch, als wäre ihr weich in den Knien. Fürstin Bea, eine schwer eingeschnürte Frau in den Vierzigern, die früher vielleicht einmal schön gewesen war, kniff missbilligend die gepuderte Stirn zusammen. Lady Westhampton hingegen war eine lustige Dame, die auf das Leben und ihren unberechenbaren Mann mit tolerantem Frohsinn reagierte: Sie lachte herzlich und gratulierte Daisy zu ihrem Schnurrbart.
Auch die jungen Männer, die als Letzte hereinkamen, zeigten sich erheitert. General
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