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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Titel: Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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»Wahrscheinlich werden sie jeden Augenblick verschwinden.« Sie sprach in beruhigendem Tonfall, aber kaum jemand hörte ihr noch zu. Alle blickten nach hinten, zur Kirchentür, und horchten auf die Schreie und Rufe der Schläger draußen vor der Kapelle. Mit maskenhaft starrem Gesicht blickte Lloyd seine Mutter an. Er hatte Mühe, still sitzen zu bleiben, so sehr drängte es ihn, nach draußen zu stürmen und den Faschisten eine Abreibung zu verpassen.
    Schließlich beruhigte die Zuhörerschaft sich ein wenig. Die Leute wandten sich wieder Ethel zu, blickten aber ständig nach hinten. »Wir sind wie Kaninchen, die zitternd im Bau sitzen, während draußen der Fuchs bellt«, sagte Ruby verächtlich, und Lloyd gab ihr recht.
    Doch die Vorhersage seiner Mutter erwies sich als zutreffend: Es flogen keine Steine mehr, und der raue Gesang entfernte sich.
    »Warum sind die Faschisten so versessen auf Gewalt?«, fragte Ethel. »Wahrscheinlich sind die Männer da draußen bloß Rowdys, aber irgendjemand macht sich ihre Aggressionen zunutze, und ihre Taktik folgt einem bestimmten Zweck. Wenn es zu Straßenkämpfen kommt, können sie behaupten, die öffentliche Ordnung wäre zusammengebrochen und dass das Gesetz sich nur mit drastischen Maßnahmen wiederherstellen ließe. Und wie werden diese Maßnahmen aussehen? Man wird die Labour Party und andere demokratische Parteien verbieten, man wird gewerkschaftliche Aktivitäten untersagen, und man wird Menschen ohne Gerichtsbeschluss verhaften – Menschen wie uns, friedfertige Männer und Frauen, deren einziges Vergehen darin besteht, anderer Meinung zu sein als die Regierung. Klingt das für euch unglaubhaft? Hört es sich an, als könnte es niemals geschehen? Nun, genau diese Taktik haben die Nazis in Deutschland verfolgt, und dort hat es funktioniert.«
    Ethel legte dar, wie der Widerstand gegen den Faschismus aussehen sollte: mit Diskussionsgruppen, Versammlungen, Briefen an die Zeitungen und Warnungen vor der Gefahr bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Aber waren das mutige, entschiedene Maßnahmen? Selbst in Ethels Ohren hörte es sich nicht danach an.
    Allmählich normalisierte sich die Stimmung im Saal. Lloyd wandte sich Ruby zu. »Die Kaninchen sind wieder sicher.«
    »Vorerst«, erwiderte sie. »Aber der Fuchs kommt zurück.«

    »Wenn du einen Jungen magst, kannst du ihm erlauben, dich auf den Mund zu küssen«, sagte Lindy Westhampton. Sie saß im Sonnenschein auf dem Rasen.
    »Und wenn du ihn richtig magst, darf er deine Brüste anfassen«, sagte ihre Zwillingsschwester Lizzie.
    »Aber nichts unterhalb der Gürtellinie.«
    »Es sei denn, ihr wärt verlobt.«
    Daisy kam aus dem Staunen nicht heraus. Sie hatte geglaubt, alle englischen Mädchen wären gehemmt. Was für ein Irrtum! Die Westhampton-Zwillinge waren geradezu sexbesessen.
    Daisy war glücklich, weilte sie doch als Gast auf Chimbleigh, dem Landhaus von Sir Bartholomew Westhampton, genannt »Bing«. Es gab ihr das Gefühl, in die englische Gesellschaft aufgenommen worden zu sein. Dem König war sie allerdings noch nicht vorgestellt worden.
    An ihre Demütigung im Buffalo Yacht Club erinnerte Daisy sich mit einer so tiefen Scham, dass sie dem Schmerz einer Verbrennung nahekam, die noch lange, nachdem die Flamme erloschen war, Qualen bereitete. Wann immer Daisy diesen Schmerz fühlte, dachte sie daran, dass sie mit dem König tanzen würde. Und dann stellte sie sich vor, wie die ganze Bagage – Dot Renshaw, Nora Farquharson, Ursula Dewar – auf ihr Foto im Buffalo Sentinel starrte, grün vor Neid, wie diese Weiber jedes Wort des Zeitungsberichts verschlangen und sich wünschten, behaupten zu können, immer schon mit ihr, Daisy, befreundet gewesen zu sein.
    Zuerst waren die Dinge ziemlich schwierig gewesen. Vor drei Monaten war Daisy mit ihrer Mutter und ihrer Freundin Eva in England eingetroffen. Ihr Vater hatte ihnen eine Handvoll Empfehlungsschreiben mitgegeben, die allerdings an Leute gerichtet waren, die sich nicht gerade als die Crème der Londoner Gesellschaft erwiesen hatten. Daisy bereute schon bald ihren selbstbewussten Abgang auf dem Yacht Club Ball. Was, wenn aus allem nichts wurde?
    Doch sie war entschlossen und erfinderisch; mehr als einen Fuß in der Tür benötigte sie nicht. Bei mehr oder minder öffentlichen Veranstaltungen wie Pferderennen und Opernaufführungen hatte sie bereits einige Spitzen der Gesellschaft kennengelernt. Mit den Männern flirtete sie, und die Matronen machte sie

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