Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
eine oder andere darüber bei, wie es in der Welt wirklich zugeht.«
Lloyd zeigte auf Tom Griffiths’ Sohn, der in der offenen Hintertür stand und zuhörte. Mit sechzehn hatte Lenny schon den typischen schwarzen Griffiths-Bartschatten, der nie verschwand, nicht einmal gleich nach dem Rasieren. »Lenny hatte einen Streit mit einem marxistischen Referenten.«
»Gut gemacht, Len«, sagte Grandah. In Südwales, das manchmal Klein-Moskau genannt wurde, war der Marxismus populär, doch Grandah war von jeher überzeugter Antikommunist gewesen.
»Erzähl Grandah, was du gesagt hast, Lenny«, forderte Lloyd ihn auf.
Lenny grinste. »1872 wurde Karl Marx von dem Anarchisten Mikhail Bakunin davor gewarnt, dass Kommunisten, sobald sie an die Macht kämen, genau solche Unterdrücker sein würden wie der Adel, den sie verdrängten. Und wenn man sich anguckt, wasin Russland passiert ist – wie könnten sie da behaupten, Bakunin hätte sich geirrt?«
Grandah klatschte in die Hände. An seinem Küchentisch fand ein gutes Argument immer großen Anklang.
Lloyds Großmutter schenkte Tee nach. Cara Williams war grau, runzlig und gebeugt wie alle Frauen ihres Alters in Aberowen. »Machst du denn schon einem Mädchen den Hof, mein Kleiner?«, fragte sie Lloyd.
Die Männer grinsten und zwinkerten einander zu.
Lloyd errötete. »Ich habe zu viel mit dem Studium zu tun, Grandmam.« Doch gleichzeitig trat ihm das Bild Daisy Peshkovs vor Augen, dazu die Telefonnummer: Mayfair 2434.
»Wer ist denn diese Ruby Carter?«, fragte Großmutter.
Die Männer lachten, und Onkel Billy sagte: »Erwischt, Boyo!«
Offenbar hatte Lloyds Mutter den Mund nicht gehalten.
»Ruby verwaltet die Mitgliedschaften in meinem Labour-Ortsverein in Cambridge, das ist alles«, antwortete er.
»Oh, aye, sehr überzeugend«, versetzte Billy, und die Männer lachten wieder.
»Dir wär’s gar nicht recht, wenn ich mit Ruby ausgehen würde, Grandmam«, sagte Lloyd. »Du wärst bestimmt der Meinung, dass sie zu enge Kleider trägt.«
»Dann ist sie nichts für dich«, sagte Grandmam. »Du bist jetzt Akademiker. Du musst dir höhere Ziele setzen.«
Sie war genauso snobistisch wie Daisy, fand Lloyd. »An Ruby Carter ist nichts verkehrt«, entgegnete er. »Aber ich liebe sie nicht.«
»Du musst eine gebildete Frau heiraten, eine Schullehrerin oder Krankenschwester.«
Das Problem war, dass sie recht hatte. Lloyd mochte Ruby, aber lieben könnte er sie nie. Sie war hübsch und intelligent, und Lloyd war genauso anfällig für eine kurvenreiche Figur wie jeder andere normale Mann; trotzdem wusste er, dass Ruby nicht die Richtige für ihn war. Schlimmer noch, Grandmam hatte ihren runzligen alten Finger genau auf den wunden Punkt gelegt: Rubys Perspektive war eingeschränkt, ihr Horizont beengt. Sie war nicht aufregend, nicht so wie Daisy.
»Das ist jetzt aber genug Frauenkram«, sagte Grandah. »Billy, erzähl uns die Neuigkeiten aus Spanien.«
»Es sind schlechte Neuigkeiten«, erwiderte Billy.
Die Augen ganz Europas ruhten auf Spanien. Das Militär hatte gegen die Volksfront-Regierung, die im Februar gewählt worden war, zu putschen versucht. Hinter dem Putsch standen Faschisten und Konservative. Der Rebellengeneral Franco hatte die Unterstützung der katholischen Kirche erlangt. Die Nachricht hatte den Rest des Kontinents erschüttert wie ein Erdbeben. Würde nach Italien und Deutschland auch Spanien dem Fluch des Faschismus verfallen?
»Die Revolte war stümperhaft, wie ihr sicher wisst, und wäre fast gescheitert«, fuhr Billy fort. »Doch Hitler und Mussolini verhinderten das, indem sie Tausende von Rebellensoldaten aus Nordafrika als Verstärkungen einflogen.«
Lenny warf ein: »Und die Gewerkschaften haben die Regierung gerettet!«
»Stimmt«, räumte Billy ein. »Die Regierung reagierte nur langsam, aber die Gewerkschaften organisierten die Arbeiter und bewaffneten sie mit allem, was sie in den Arsenalen der Armee, auf Kriegsschiffen, in Waffenläden und sonst wo beschlagnahmen konnten.«
»Endlich wehrt sich jemand«, sagte Grandah. »Bisher sind die Faschisten nie auf Widerstand gestoßen. Im Rheinland und in Abessinien konnten sie einfach einmarschieren und sich nehmen, was sie wollten. Gott sei Dank für das spanische Volk, sage ich. Die haben wenigstens den Mut, Nein zu sagen.«
Von den Männern an den Wänden kam zustimmendes Gemurmel.
Lloyd erinnerte sich wieder an den Samstagnachmittag in Cambridge. Auch er hatte den Faschisten ihren
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