Winter - Erbe der Finsternis (German Edition)
etwas näher fühlen …«
Sie betrachteten beide den Strauß künstlicher Blumen auf dem Nachttischchen.
Susan hatte ihn so oft und so lange angeschaut, dass sie ihn mit geschlossenen Augen hätte beschreiben können.
Marion Starr mochte keine Schnittblumen, sie empfand sie als schön, aber tot, und sie liebte es, von Leben umgeben zu sein. Das Krankenhauspersonal hatte sich jedoch beharrlich geweigert, die Topfpflanze zuzulassen, die Winter ihrer Großmutter in den ersten Tagen gebracht hatte. Und Winter hatte schließlich nichts Besseres gefunden als die künstlichen Blumen, um das triste Zimmer etwas freundlicher zu gestalten.
Den Blumenstrauß mit der Patientin zusammen zu verlegen, war eine nette Geste gewesen. Susan bedankte sich bei der Krankenschwester und sah schweigend zu, wie sie mit raschen und geübten Handgriffen den Tropf auswechselte.
Als die Krankenschwester das Zimmer verlassen hatte, senkte Susan den Blick wieder und überflog träge ihre Unterlagen, bis sie fast vergaß, wo sie sich befand.
Es war so friedlich und still, dass die Stimme ihr den Atem raubte.
»Susan«, sagte Marion Starr und warf ihr zum ersten Mal einen kristallklaren Blick zu.
Die Anwältin sprang auf. Es kam selten vor, dass sie die Sprache verlor.
»Du erkennst mich?«
»Wo ist meine Enkelin? Wo habt ihr sie hingebracht, du und die anderen?«
Kaum fünf Minuten später scharte sich eine Vielzahl von Krankenschwestern und Ärzten um das Bett.
In Susan Brays Auto hatte Winter erst nach langer Zeit aufgehört, an ihren Fingernägeln zu kauen. Seit ungefähr einer Stunde klopfte sie nun mit den Fingern an die Fensterscheibe.
Als sie sich der Londoner Innenstadt näherten, verlor die Anwältin die Geduld.
»Könntest du bitte aufhören …«
Winter tauchte aus dem Dunstnebel ihrer Gedanken auf und blinzelte.
»Entschuldigung«, murmelte sie und zuckte mit den Schultern.
Die Erlaubnis, ihre Großmutter zu besuchen, hatte ihre Wut auf Susan nur teilweise besänftigt.
Die Reise war noch angespannter gewesen als die Autofahrt nach Wales vor einigen Wochen.
»Warum hast du mir nicht erlaubt, früher zu kommen? Ich habe mehr als einen Monat gewartet«, fragte Winter schließlich, als das Auto auf dem Besucherparkplatz des Krankenhauses anhielt.
Susan Bray zog den Zündschlüssel ab und musterte sie unauffällig.
»Winter, du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich alles unternehmen musste, um dich heute hierherzubringen!«
Darauf konnte sie nichts erwidern.
Winter konnte es kaum erwarten, ihre Großmutter zu sehen. Man hatte sie gewarnt, dass sie nicht immer bei klarem Verstand wäre, aber Winter wollte sie trotzdem besuchen.
Aber jetzt, wo der Moment näher kam, begann eine dumpfe Angst in ihren Eingeweiden zu wühlen. Sie stieg aus dem Auto, drückte den Kristallanhänger fest zwischen den Fingern und betrat hinter der Anwältin das Krankenhaus.
Im Gebäude herrschte eine drückende Hitze. Sie gingen nebeneinander durch die Korridore, bogen um eine Ecke nach der anderen, und plötzlich wurde Winter von Panik erfasst.
Die Träume!,
erkannte sie. Das Krankenhaus, die Treppen, die hinauf- und hinunterführten … Alles war schrecklich ähnlich wie in den Albträumen der vergangenen Nächte. Es schien, als sei sie in einem verworrenen Labyrinth gefangen, ohne Fluchtweg.
Instinktiv verlangsamte sie ihre Schritte, was Susan sogleich bemerkte.
»Bist du sicher, dass du es verkraftest, Winnie?«, fragte sie in ihrem ruhigen und sicheren Ton.
Atmen, Winter
, befahl das Mädchen seinen Lungen,
atmen … Es ist alles gut …
Das war eine erbärmliche Lüge, und sie wusste es, aber wenn sie ihr bloß half weiterzugehen, war es okay.
Sie konnte nicht sprechen, also nickte sie.
»Zimmer 407.«
Als sie zu ihr rannte und sie umarmte, wirkte ihre Großmutter beinahe normal.
»Ich bin ja so glücklich, dich zu sehen, mein Schatz!«, rief Marion Starr und umfing die Enkelin mit ihren mageren Armen. »Es tut mir leid wegen unserer Reise … Und du hast mir so gefehlt!«
Winter drückte sie noch stärker. Susan Bray sah, dass ihre Augen tränenfeucht waren.
»Du mir auch, Oma«, murmelte sie und drückte das Gesicht an ihren Hals. »Die Reise ist mir egal. Die machen wir, wenn es dir wieder gut geht.«
Es war ein bewegendes Bild, und die Anwältin musste ihre ganze Kaltblütigkeit aufbieten, um die beiden weiter zu beobachten. Marion schien bei völlig klarem Verstand zu sein, doch sie war immer noch
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