Winter - Erbe der Finsternis (German Edition)
einen Namen zu geben. Es war nicht einfach: Dass Rhys Llewelyn blendend aussah, stand außer Frage, aber das, was sie fühlte, ging weit über eine rein körperliche Anziehung hinaus.
Du kennst ihn doch überhaupt nicht … Du kannst dich unmöglich verliebt haben!
Genau das aber war der Punkt. Es war, als hätte sie sich verliebt, abgrundtief, ganz und gar. In den wenigen, eine Ewigkeit dauernden Minuten, die sie miteinander verbracht hatten.
Mit einer nervösen Geste griff Winter nach dem gerahmten Foto neben der Nachttischlampe und betrachtete das Porträt der Sin-derella.
Sie erinnerte sich sehr gut an den Tag gegen Ende des Schuljahrs, als das Foto entstanden war. Es war im Juni gewesen, doch ihr kam es vor, als sei ein Jahrhundert vergangen seither, und nicht erst wenige Monate. Sie hatten das Abitur des Schlagzeugers Hard gefeiert, der damals überlegte, ob er sich sofort am College einschreiben oder lieber ein Sabbatjahr einschieben sollte.
Sie ging im Geist jeden einzelnen ihrer Freunde durch: Madison huckepack an Hards Rücken geklammert, Kenneth, der lachend eine Flasche Bier in die Kamera hielt, die anderen um sie herum in provokativen Heavy-Metal-Posen.
Kurz danach hatte ein denkwürdiger Platzregen eingesetzt, der den Nachmittag im Park ruiniert und dem Leadsänger einen hässlichen Schnupfen eingebracht hatte, aber auf dem Foto schien keiner von ihnen auch nur das geringste Problem zu haben.
Zum ersten Mal bereute sie, kein einziges Erinnerungsfoto mitgenommen zu haben, auf dem sie ebenfalls zu sehen war. Vielleicht fühlte sie sich einfach nur einsam …
Sie nahm erneut das Handy in die Hand und wählte die Nummer von Madison.
»Winnie!«
Der Schrei, der nach wenigen Freizeichen an ihr Ohr drang, ließ ihr fast das Trommelfell platzen.
»Hey, Mad.«
»Na?! Was läuft so auf der Heide?«
Winter schmunzelte.
»Natürlich nichts«, sagte sie schnell. »Tote Hose.«
»Na komm schon!«, erwiderte die Freundin lebhaft. »Du bist eine exotische Londoner Schönheit … Du machst bestimmt Furore in Cae oder wie das Kaff noch mal heißt!«
»Cae Mefus. Und zu deiner Information, ich mache überhaupt keine Furore …«
Madison und sie hatten vor ihrem Umzug nach Wales nie Geheimnisse voreinander gehabt, doch Winter brachte es nicht über sich, ihr von dem Überfall zu erzählen. Die Sorge wollte sie ihr ersparen.
»Im Ernst, die einzige Party, zu der ich gegangen bin, war ein Desaster, ich habe dir doch schon davon erzählt! Die Musik war miserabel, ich kannte praktisch niemanden und dann habe ich auch noch mörderische Kopfschmerzen bekommen …«
»Okay, okay.« Madisons Enthusiasmus hatte sich etwas verflüchtigt. »Stimmung am Gefrierpunkt.«
»Ich versuche, mich hier einzugewöhnen, Mad. Aber es ist alles so anders! Es gibt …«
Einen Irren, der nachts herumläuft und Leute überfällt!
»Es gibt nichts Beunruhigendes, Mad, ich bin bloß nervös, wegen Oma und so …«
Eine kleine Korrektur der Realität, nur eine unbedeutende Unterlassung.
»Ich weiß … Ich wäre ja so gern bei dir!«
Auch Winter wünschte es sich inständig.
»Manchmal fühle ich mich so schrecklich allein, Madison.«
Dass sie ihre Freundin beim vollen Namen genannt hatte, war ein ganz schlechtes Zeichen. Für einen Moment war nichts anderes zu hören als ihr Atmen.
»Hey, Win, was ist los?«, fragte Madison und wurde plötzlich ernst. »Du warst immer so stark, ich habe dich noch nie so erlebt …«
Winter seufzte und suchte nach einer geeigneten Antwort.
»Ich möchte nach Hause kommen«, sagte sie leise. »Mir fehlen unsere Gespräche, unsere Unternehmungen, und sogar die Sin!«
»Wow«, antwortete Madison mit weicher Stimme. »Das bedeutet rabenschwarze Krise!«
Winter lachte. »Entschuldige. Ich bin grad ziemlich schlecht drauf.« Das Lachen erstarb in einem Seufzer.
»Ich bin mir nicht sicher, aber vielleicht gibt’s da jemanden …«
»Verknallt?«
»Ach, was weiß ich, es ist …« Sie unterbrach sich und suchte nach Worten.
Wie eine ewige Liebe, die nur wenige Augenblicke dauert. Als würdest du jemanden beobachten, den du in der Vergangenheit innig geliebt hast und der jetzt nahe, aber dennoch unerreichbar ist. Sogar ihn anzuschauen tut im Herzen weh, Madison. Ich fühle mich, als könnte ich nie mehr über mich selbst bestimmen. Wie soll ich es dir sagen? Wie soll ich dir diese Sehnsucht erklären?
Vielleicht wurde sie langsam verrückt … Eine pervers faszinierende
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