Winter - Erbe der Finsternis (German Edition)
allumfassende, erschreckende Erfahrung, viel zu stark, um real zu sein, viel zu rasch, um begreiflich zu sein.
Für einen Augenblick konnte keiner der beiden den Kontakt unterbrechen.
Die Antwort schien so nah und das Bewusstsein, sie doch nicht erfassen zu können, war beinahe schmerzhaft.
Dann wurde es zu viel.
Entschlossen senkte Winter das Gesicht.
Erst in dem Moment merkte sie, dass sie immer noch den Anhänger in der Hand hielt. Sie legte sich die Kette um und atmete tief durch.
Rhys machte einen Schritt zurück, nur um sicher zu sein, dass es ihm gelingen würde.
Mit einem Zittern kam der Junge wieder zu sich. Er wusste nicht, wie er das, was ihm eben passiert war, nennen sollte. Ein Tagtraum oder vielleicht ein Albtraum, in dem seine Seele die ihre gestreift hatte.
Es war unglaublich.
Aber er war sich sicher, den Ruf vernommen zu haben, er konnte sich unmöglich geirrt haben. Es war wie ein Kräuseln, eine leichte Verstörung, die über die Haut glitt und die Sinne streichelte. Er hatte ihn ganz deutlich wahrgenommen, und vielen anderen war es in letzter Zeit ebenso ergangen.
Es gab keinen Namen dafür, es war nur eine kleine, schwelende Unordnung inmitten einer scheinbaren Ruhe.
Die Wirkung der Bewegung
, dachte Rhys.
Möglicherweise hatte Winter Starr ihn ebenfalls wahrgenommen, den Geruch der MACHT . Das wäre zwar erstaunlich, aber man durfte es nicht grundsätzlich ausschließen.
Was sonst konnte sie in einem Wimpernschlag auf so vollkommene Weise vereint und wieder getrennt haben?
Er zwang sich zu einem gelassenen und ausdruckslosen Gesicht und machte sich an Winters Seite auf den Weg, als wäre nichts geschehen.
Sie erreichten den Schulhof. Klingen aus goldenem Licht durchschnitten die eisige Luft.
»Du bist also doch hierhergezogen …«, bemerkte Rhys nach einiger Zeit.
Es war beruhigend, nach den überwältigenden Momenten einen so banalen Satz von ihm zu hören. Winter Starr nickte und starrte auf ihre Schuhspitzen.
Sie hoffte, ihre Stimme würde nicht allzu aufgewühlt klingen.
»Ja. Es kam auch für mich überraschend …«
»Und? Gefällt es dir hier?«
»Wird sich herausstellen. Es ist noch etwas früh, um das zu sagen.«
Rhys lächelte, ohne sie anzusehen.
»Stimmt«, gab er zu.
Sie gingen weiter gemeinsam durch den Park. Winter wurde mit jedem Schritt ruhiger.
»Und du? Hast du schon immer hier gelebt?«
»Ja und nein«, antwortete der Junge in einem rätselhaften Tonfall. »Meine Familie stammt aus Cardiff … Aber im Moment wohne ich praktisch im Klubhaus.«
»Und danach?«
Sie bereute die Frage sofort. Sie war aufdringlich, unangebracht.
Doch er wirkte beinahe amüsiert.
»Wer weiß … Ich habe massenhaft Zeit, um darüber nachzudenken!«
Ohne zu wissen warum, spürte Winter, wie ein furchtbarer und zugleich süßer Schauer ihr den Rücken hinaufkroch.
Sie war immer noch verstört, doch als sie in den Hof voller Schüler schaute, stellte sie erleichtert fest, dass ihr alles wieder normal vorkam.
Sie entdeckte Lorna in einer Schülergruppe.
Rhys folgte ihrem Blick.
»Entschuldige, ich halte dich auf …«
Sie lächelten etwas verlegen und wechselten einen letzten, unsicheren Blick.
»Bis bald«, sagte Winter schließlich und entfernte sich rasch.
Rhys verscheuchte den Geruch der MACHT aus seinen Gedanken.
Eine subtile Verstörung lag kaum wahrnehmbar in der Luft. Etwas, das sie bezähmt geglaubt hatten. Aber vielleicht hatte es schon die ganze Zeit auf der Lauer gelegen.
Er fühlte sich seltsam, von einer unerklärlichen Erregung durchdrungen.
Er hätte dem Geschehen auf den Grund gehen und Nachforschungen über die junge Starr anstellen sollen …
Aber vorerst musste er sich um sich selbst kümmern.
B is bald, Susan.«
Mit einem Seufzer legte Winter das Handy auf das Nachttischchen.
Ihre Großmutter machte neuerdings Fortschritte. Ihre Blutwerte wurden langsam wieder normal und die Wachzustände hielten länger an.
Besorgniserregend war jedoch ihr geistiger Zustand, die Verwirrtheit, in die sie immer wieder abglitt.
Winter wollte gar nicht daran denken, dass ihre Großmutter für immer in ihren Delirien gefangen bleiben könnte.
Sie ließ sich niedergeschlagen auf das Bett fallen und verlor sich in der Betrachtung der Regentropfen, die unaufhörlich an die Fensterscheiben klopften. Sie fühlte sich angespannt, unruhiger als sonst.
Die Begegnung mit Rhys ging ihr nicht aus dem Kopf.
Sie schnaubte entnervt, unfähig, ihren Gefühlen
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