Winter - Erbe der Finsternis (German Edition)
wonach ihr sucht, nicht wahr?«
Die Augen des Lehrers überflogen die Klasse und jeder Schüler hatte den Eindruck, der Blick habe ihm gegolten.
»Man sucht Ursachen und Wirkungen«, bemerkte Nerys Maddox. »Und man stellt Verkettungen her. Man könnte mit einer konkreten Nachforschung beginnen und das Forschungsobjekt dann zurückverfolgen auf der Suche nach dem, was es ausgelöst hat.«
Ihr kupferrotes Haar wogte ihr um die Schultern, während sie sprach, und fing Lichtreflexe ein. Sie schien sich weder unbehaglich noch unzulänglich zu fühlen, und Winter hatte den Eindruck, dass das bei den Nox überhaupt ganz selten der Fall war.
»Sehr gut«, sagte der Lehrer anerkennend, »wirklich eine gute Überlegung. Aber welche Beziehung besteht deiner Ansicht nach zwischen Nachforschung und theoretischen Hypothesen, Maddox?«
Das Mädchen überlegte einen Moment lang.
»Ich denke, die Theorien sollten das Ergebnis einer guten Recherchearbeit sein, nicht der Ausgangspunkt …«
Winter hob den Kugelschreiber vom Blatt, die Spirale, die sie zerstreut gekritzelt hatte, blieb halb fertig.
»Auch das kann richtig sein«, räumte Vaughan ein. »Ein Fehler vieler Schüler ist mangelnde Kreativität. Mit anderen Worten, zu viele von euch bemühen sich, das, was sie beobachten, auf ein kodifiziertes Interpretationssystem zurückzuführen.«
Diese Überlegung erregte Winters Aufmerksamkeit. Sie war ungewöhnlich, aber interessant.
»Aber wie geht man vor«, schaltete sie sich ein, während der Lehrer unweit ihrer Bank auf und ab ging, »wenn die Bezugspunkte fehlen?«
Vaughan blieb stehen und schaute sie an, Winter fühlte, wie sein Blick sie durchbohrte.
Eindringlich und nicht ohne eine gewisse Neugier.
»Was ich sagen will, ist, dass man riskiert, nach dem Zufallsprinzip vorzugehen«, fügte sie hinzu, »ohne konkrete Ergebnisse zu erhalten …«
Das vage Lächeln, das über das Gesicht des Lehrers huschte, war unmöglich zu entschlüsseln.
»Man braucht seinen Kopf«, sagte er, »und Intuition, wer welche hat. Das Leben verläuft nicht linear, und ich kann euch versichern, dass das immer so gewesen ist. Dinge, die zeitlich weit auseinanderliegen und scheinbar nichts miteinander zu tun haben, können in Wahrheit eng zusammenhängen. Und dennoch ist die historische Methode mit der wissenschaftlichen verwandt: Die Geschichte ist eine Art chemische Reaktion, die uns von der Vergangenheit in die Gegenwart führt. Gleichzeitig ist es aber sehr schwierig zu erkennen, welche Elemente jeweils im Spiel sind. Das ist vielleicht eine der größten Schwierigkeiten.«
»Sie empfehlen also, einer Spur, einer Intuition zu folgen, welche auch immer es sei?«, wollte das Mädchen wissen.
Vaughan hob das Gesicht und schien zu überlegen.
»Glaub mir, manchmal gibt es keine Alternative«, erklärte er schließlich und richtete einen letzten, schrägen Blick auf sie.
Der heftige Klang der Glocke hinderte sie daran, die Diskussion weiterzuführen.
Winter nahm ihren Rucksack und beeilte sich, in die Bibliothek zu kommen.
Den Horizont erweitern. Die Dinge von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachten
, wiederholte sie bei sich.
Sie würde die ganze Mittagspause verlieren, aber das wäre kein großes Opfer, wenn es ihr gelingen würde, endlich etwas zu verstehen.
Und im Grunde war sie ohnehin noch viel zu wütend auf Gareth, um ihn sehen zu wollen.
»Entschuldigen Sie, Mr Graves«, wandte sie sich in ihrem höflichsten Ton an den griesgrämigen Bibliothekar. Da sie hier Dauerbesucherin werden würde, war es besser, sich gut mit ihm zu stellen. »Ich suche die Abteilung mit den Tageszeitungen, insbesondere die neueren Ausgaben.«
Graves starrte sie an, als sähe er sie zum ersten Mal.
Er trug eine Brille mit unglaublich dicken Gläsern und einem altmodischen Gestell, und sein Haaransatz begann erst an der Kopfmitte. Die hohe Stirn reichte allerdings nicht aus, um ihn intelligent wirken zu lassen.
»Dort drüben«, antwortete er mit einer vagen Handbewegung nach rechts, mit großer Wahrscheinlichkeit der einzige Hinweis, den sie erhalten würde.
Winter wappnete sich mit Geduld und begann die Regale abzusuchen.
Bis dahin hatte sie ein solches Durcheinander im Kopf gehabt, dass sie nicht wusste, wo sie anfangen sollte.
Die Zeitungsartikel über Emma Jones und Lorna noch einmal zu analysieren, schien ihr ein guter Anfang zu sein. Sie war auf der Suche nach Einzelheiten, einem vagen Indiz, das die beiden Episoden miteinander
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