Winter - Erbe der Finsternis (German Edition)
konnten, doch das Bewusstsein, dass er hier neben ihr war, jagte ihr kleine Schauer über den ganzen Körper.
Rhys’ Gesicht blieb ausdruckslos, es wirkte wie eine reglose Maske. Nur seine Finger, die unentwegt über das Gestein strichen, verrieten seine Unruhe.
»Warum hast du mich gebeten herzukommen?«
Um herauszufinden, ob du kommen würdest
, war Winters erster Gedanke. Ehrlich bis zur Unverfrorenheit.
Sie presste die Lippen zusammen, damit es ihr nicht herausrutschte, und konzentrierte sich auf die Form der Wolken.
»Wir müssen miteinander reden«, wiederholte sie schließlich.
Keiner von beiden hatte bisher den Kontakt zum anderen gesucht, und es war auch eine denkbar schlechte Idee. Doch im Grunde hatten sie nichts zu verlieren …
Winter nahm all ihren Mut zusammen.
»Hör zu, in den letzten Monaten ist die Welt über mir zusammengebrochen. Man hat mir alles weggenommen, was ich besaß, und mich in einen absurden Traum gestürzt. Mir passieren so viele wahnwitzige Dinge, dass es mir manchmal vorkommt, als sei ich verrückt geworden.« Sie schaute ihn mit einem unglücklichen Lächeln an. »Und du gehörst zu den wahnwitzigsten … Ob wir es wollen oder nicht. Rhys, ich weiß nicht, was ich für dich bin. Ich weiß bloß, dass wir irgendwie nicht voneinander loskommen.«
Winters Wangen glühten.
»Du bist … ein Vampir. Farland hat mich kurz vor Weihnachten angegriffen, und er war nicht der Erste. Ich müsste panische Angst haben vor dir, aber das tue ich nicht. Du bist hier und ich fühle mich sicher …«
Sie lächelte bitter.
Er fragte sich, wie weich ihre Lippen wohl waren.
»Das Gleiche gilt auch für mich«, murmelte er dann und hob eine Hand, um die kalte Luft zwischen den Fingern zu spüren, »und ich sage mir andauernd, dass es ein Fehler ist, aber …«
Er sah sie beinahe argwöhnisch an, als müsste ihr Gesicht ihm eine Erklärung liefern. Er betrachtete ihre Züge, den ernsten Ausdruck, und fragte sich, wie sie wohl aussah, wenn sie lachte.
»Aber ich kann nichts dagegen tun.«
Oder vielleicht war im Grunde alles ganz einfach, vielleicht musste er sich nur eingestehen, dass Winter ihn anzog und ihn aufwühlte wie kein Mädchen je zuvor.
Er durfte nicht einmal daran denken.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich will, dass es so ist«, sagte Winter gespielt distanziert. »Ich wünschte mir, es gäbe wenigstens einen Grund dafür …«
Wofür?
, fragte sich der Vampir.
Dafür, dass wir uns meiden müssen oder dass wir nicht voneinander loskommen?
Er ließ seinen Blick schweifen, hoffte, am Horizont möge ihn irgendetwas von ihr ablenken.
Winter spielte mit ihrem Anhänger, und der Wind wirbelte um sie herum.
Es war schön hier oben, bei der Ruine. Rhys betrachtete nun wieder das Mädchen neben sich, streifte mit den Augen über jeden Zug ihres Gesichts.
Sie hatte die Haare hinter die Ohren gestrichen, und das Glitzern ihrer Ohrringe nahm seinen Blick gefangen. Winter trug einen roten Schal, der flauschig weich aussah. Sie hatte ihn so umgebunden, dass der Hals darunter verborgen blieb.
Und dennoch kam es ihm vor, als würde gerade dadurch ihr Hals erst richtig hervorgehoben.
Die Wolle duftete bestimmt nach ihrem Parfüm, sie liebkoste sanft ihre Haut.
Er erschauerte und wurde sich bewusst, dass er das gern selbst getan hätte, dass er am liebsten ihre Haut von der wollenen Berührung befreit hätte, um sie zärtlich zu streicheln.
Eilig verscheuchte er seine Gedanken, streckte die Hand aus und berührte mit dem Zeigefinger ihren Anhänger.
Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, nahm Winter die Kette ab.
Während die Worte ihrer Großmutter in ihrem Kopf widerhallten, sah sie reglos zu, wie die kleine Kristallkugel auf die ausgestreckt wartende, weiße Handfläche rollte, und es überrieselte sie kalt.
Entgeistert fühlte Rhys, wie der Hauch der MACHT ihn anrührte.
Was er empfand, wäre jemandem, der es noch nie erlebt hatte, schwierig zu erklären gewesen: Es war, als sei die Welt nach wie vor in ihrem konstanten Gleichgewicht, würde jedoch von Zeit zu Zeit von einem Kräuseln in der Luft durchdrungen, einer Veränderung der Intensität … Das war der Hauch der MACHT , eine schillernde, undefinierbare, oft unruhige Pulsation.
Seine Hand schloss sich reflexartig um die kleine Kugel.
»Spürst du es auch?«, fragte er in einem rauen Flüstern.
Winter starrte ihn nur an, regungslos und bleich.
»Was?«
Ihre Stimme war so leise, dass nicht einmal
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