Winter - Erbe der Finsternis (German Edition)
dann waren sie alle verdammt unvorsichtig gewesen.
»Folge mir!«, befahl er ihr und klappte das Buch zu, in das sie vertieft war.
Er ließ ihr gerade noch Zeit, um ihre Siebensachen zusammenzusuchen, dann ging er ihr voraus.
Winter folgte ihm und wich dabei den Schülern aus, die von einem Klassenzimmer zum nächsten zogen, bis sie in seinem Büro ankamen.
Als sie eingetreten waren, schloss der Lehrer die Tür hinter ihnen.
»Was bedeutet das?«, fragte sie.
Er nahm ihr die Bücher aus der Hand und legte sie auf den Schreibtisch.
»Dass dies von jetzt an dein neues Studierzimmer ist.«
Er wies ihr einen Stuhl zu und setzte sich hinter den Schreibtisch.
»Ich bin weiterhin der Ansicht, dass du gut daran tätest, deine Recherchen aufzugeben, aber wenn du wirklich nicht darauf verzichten kannst, dann tu es wenigstens an einem sicheren Ort.«
Der Großmeister war überaus deutlich gewesen in Bezug auf die Notwendigkeit, sie zu schützen. Und Vaughan hatte eine unbändige Lust herauszufinden, weshalb.
»Ich denke außerdem, dass du sie mit einer gewissen Diskretion vorantreiben solltest …«
Winter sah ihn sehr ernst an.
»Wieso helfen Sie mir dauernd?«
Vaughan seufzte tief und lächelte flüchtig.
»Das frage ich mich manchmal auch.«
K urz vor dem Nachmittagsunterricht eilte Winter atemlos durch die Korridore der St Dewi’s. Sie musste sofort Rhys finden. Nach der Umarmung auf dem Fußballplatz hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen, doch ihre Blicke hatten sich unentwegt gesucht. Irgendetwas, das außerhalb ihres Willens lag, trieb sie immer wieder zueinander hin.
Sie fand Rhys in der Nähe der Bibliothek.
Er schaute zu ihr hin, als hätte er sie kommen gehört.
»Wir müssen miteinander reden …«
»Nicht hier«, erwiderte er und deutete mit einer flüchtigen Handbewegung in Richtung Flur.
Winter folgte seinem Blick und sah Nerys Maddox und Cameron Farland näher kommen.
»Dann bei der Burgruine Ger Y Goeden?«, fragte sie hastig.
Der Junge nickte. »Ich komme, sobald die Schule aus ist.«
Der Nachmittag verging im Flug, und nach Schulschluss machte Winter sich mit klopfendem Herzen auf den Weg durch das Gehölz. Sie hoffte inständig, es würde alles gut gehen.
Unbekümmert um den morastigen Schneematsch auf dem Pfad, marschierte sie eilig zur Ruine.
Auf einem Hügel erhoben sich die Reste einer Ritterburg, von der inzwischen nur noch ein verfallenes Gemäuer übrig war. Winter hatte die Burgruine zufällig entdeckt und liebte diesen Ort über alles.
Sie wusste nicht, ob Rhys wirklich kommen würde, und vielleicht hätte sie sich sogar wünschen sollen, dass er nicht käme …
Sie kletterte zwischen den moosbedeckten Steinen und baufälligen Mauern hinauf bis zu dem, was einst eine Freitreppe gewesen war, setzte sich hin und betrachtete das Panorama.
Von da oben konnte man die ganze Gegend überblicken: den schlängelnden Flusslauf des Elwy, der hier und da in einem Wald verschwand, die Weiden, Cae Mefus. Instinktiv wanderte Winters Blick zum Haus der Chiplins und dann zum Schulpark. Wenn sie die Augen zusammenkniff, konnte sie sogar die Bucht von Colwyn und einen blauen Streifen Meer sehen.
Der Himmel war stahlgrau, nur hier und da fielen Lichtstreifen in die Wälder.
Endlich drang ein leises Geräusch an ihre Ohren. Winter atmete tief durch und nahm all ihren Mut zusammen.
»Ich weiß, dass du da bist …«, sagte sie dann.
Für einen Moment spürte sie nur den Wind. Dann vernahm sie ein kaum hörbares Rauschen.
»Hast du bezweifelt, dass ich kommen würde?«, fragte Rhys Llewelyn trocken.
Dann war er so nah, dass sie ihn sehen konnte.
Winter war plötzlich verunsichert und hielt den Blick starr auf die Ebene unter ihnen gerichtet.
»Du hättest allen Grund gehabt, nicht zu kommen …«
Sie fürchtete immer noch, er könnte jeden Augenblick verschwinden.
Doch Rhys kam ohne Eile näher.
Er setzte sich scheinbar ungezwungen neben sie und betrachtete die Sonnenstrahlen.
Der Himmel hatte dieselbe Farbe wie ihre Augen, stellte er unvermittelt fest.
»Warst du tatsächlich unsicher, ob ich dir folgen würde?«
Der Tonfall seiner Frage war leicht, aber das Mädchen verstand, dass ihn die Antwort wirklich interessierte.
Das Gesicht hinter den Haaren verdeckt, spähte sie endlich zu ihm hinüber.
»Ja. Aber ich habe gehofft, du würdest kommen«, gab sie errötend zu.
Sie saßen so weit voneinander entfernt, dass sie sich nicht einmal unbeabsichtigt berühren
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