Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
vor nicht. Wie jedem Kriminellen gewisse Rechte zustehen, haben natürlich auch Stasi-Täter Rechte. Inwieweit sollte es dennoch möglich sein, die Akten von Inoffiziellen Mitarbeitern zu studieren? Welche Informationen sollten uns zustehen, welche nicht? Wie konnte der Persönlichkeitsschutz respektiert werden?
Geiger hat seinem Chef und den Mitarbeitern aus dem Osten erst einmal Nachhilfeunterricht erteilen müssen in Rechtsstaatlichkeit und rechtsstaatlichen Normen. Er hat uns beigebracht, was rechtsstaatliches Verwaltungshandeln und was Willkürfreiheit ist und dass man mit gutem Willen allein keine Behörde leiten kann. Er hat auch überzeugend dargelegt, dass das, was andere Bürokratie nennen, letztlich eine Regelung zugunsten der Schwachen ist, da alle Bürger nach Maßgabe des Gesetzes gleichberechtigt sind. Wenn vieles kompliziert ist, dann deshalb, weil jeder Vorgang in einer Behörde nachvollziehbar sein muss. Geiger hat von Anfang an gewusst, welcher gigantische Aufwand damit verbunden sein würde, wenn Akten an Betroffene, Behörden, Gerichte, Journalisten und Wissenschaftler herausgegeben werden würden. Wir dagegen hatten unseren politischen Willen zwar sehr klar zum Ausdruck gebracht, aber über die Form seiner Umsetzung nicht so genau nachgedacht.
Geiger wurde uns auch eine Stütze im Umgang mit dem Aufbaustab. Als westdeutscher Beamter empfand er unseren von der Basisdemokratie inspirierten Laissez-faire-Stil anfänglich zwar auch befremdlich, aber er hatte für die politische Situation größeres Verständnis als manch anderer und bemühte sich um einen Ausgleich mit den Aktivisten von 1989.
Bei der Auswahl der Bewerber traten die wohl größten Differenzen zum Aufbaustab auf. Wir ostdeutschen Stasi-Auflöser waren daran interessiert, möglichst erprobte Aktivisten aus der
Zeit des Umbruchs in die Behörde zu ziehen, die sich durch ihr persönliches Engagement allmählich umfangreiche Kenntnisse erworben hatten. Uns war es egal, ob sie bis dahin als Schlosser, Lehrer oder Pastoren gearbeitet hatten. Mein Vertrauter im Bezirk Chemnitz war beispielsweise der Klempnermeister Konrad Felber, ein Abgeordneter der frei gewählten Volkskammer wie ich. Da hieß es: »Ein Klempnermeister erfüllt nicht die Eingangsvoraussetzungen des höheren Dienstes.« Dem hielten wir entgegen: »Was nützt uns jemand vom höheren Dienst, der noch nie eine Stasi-Akte gesehen hat?« Im Fall des Klempnermeisters haben wir uns durchgesetzt, in vielen anderen nicht.
Den Mitgliedern der Bürgerbewegung, die eingestellt worden waren, bot man später berufsbegleitende Ausbildungen in der Behörde an, so dass sie sich im neuen Aufgabenbereich weiterqualifizieren konnten. Der ehemalige DSU-Abgeordnete Steiner aus dem Erzgebirge, ein Schlosser, dem zu DDR-Zeiten das Abitur verweigert worden war, ist auf diese Weise Leiter einer Außenstelle geworden. Später wechselte er als Parteiloser in die Politik und wurde im Erzgebirge Bürgermeister für die CDU.
Die Beamten des Aufbaustabs dachten, mit Krankenschwestern, Bühnenbildnern, Studenten, Pulloverträgern oder Klempnern aus Karl-Marx-Stadt könne man keine Behörde aufbauen, und haben uns das je nach Souveränität mehr oder weniger deutlich spüren lassen. Die Mitglieder der Bürgerkomitees hingegen warfen den Beamten mangelnde Sensibilität im Umgang mit der Materie vor, fantasieloses Gestalten nach Schema West und blindes Loyalitätsverhalten.
Nicht wenige ehemalige Bürgerrechtler haben vergeblich auf eine Einstellung gehofft, sie waren entweder unter-oder als Akademiker überqualifiziert etwa für die angestrebte Stelle als Rechercheur, oder sie passten den einstellenden Beamten einfach nicht. Ich erhielt bittere Briefe: »Insgesamt scheint es eben doch so, dass man in Deiner Behörde den ›Bürgerbewegten‹ nicht allzu freundlich gegenübersteht und dass vieles an Dir vorbei entschieden wird.« Tatsächlich wurde vieles an mir vorbei entschieden
- es ging gar nicht anders. Anfang 1992 wurden monatlich unter den 10 000 Bewerbern bis zu 250 neue Mitarbeiter ausgewählt und eingestellt.
Die Hauptarbeit zumindest bei uns in Berlin leisteten Teams aus Westdeutschland, die in Personalführung Erfahrung hatten. Sie hielten nicht selten relativ förmlich auftretende Krawattenträger für geeignet, die ich schon aus zwanzig Metern Entfernung als Genossen identifizierte. Einmal konnte ich mich gegenüber einem durchaus tüchtigen und aufgeschlossenen Personalreferenten nicht
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