Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
getippt werden, es gab ja noch keinen Computer.
Die Mitarbeiter, die wir aus den Bürgerkomitees übernommen hatten, arbeiteten drei Monate lang ohne geregeltes Gehalt. Das lag nicht daran, dass Bonn nicht zahlen wollte, vielmehr forderte das BMI uns immer wieder auf: »Nennen Sie uns ihre Mitarbeiter!« Der Staat zahlt eben nur, wenn ein Vertrag vorliegt. Doch es fehlten die Vertragspartner. Die Leiterin der Dienststelle in Leipzig beispielsweise nannte mir am Telefon jedes Mal andere Zahlen über ihre Mitarbeiter. Sie verstand nicht, warum sie sich um Gehälter kümmern sollte, wo es so viel Wichtigeres zu tun gab. Erst nach Wochen konnte eine
Namensliste der Mitarbeiter zusammengestellt werden. Alle erhielten noch vor Weihnachten einen Vertrag.
Weitere Einstellungen erfolgten im Januar 1991. Wir hatten im November 1990 gemeinsam mit dem Aufbaustab überschlagen, wie viele Mitarbeiter wir brauchen würden, und waren im ersten Anlauf auf etwa 560 Planstellen gekommen. Bei dieser Zahl waren wir uns schon sehr mutig vorgekommen. Wir ahnten nicht, dass es schließlich über 3000 Mitarbeiter werden würden. Wir wussten noch nicht, wie viel Material überall noch entdeckt werden würde, beispielsweise in Frankfurt /Oder, wo die Ordner völlig zerfleddert in einem zehn Meter tiefen Bunker lagerten. Dort waren sie von Lkws einfach hineingekippt worden und hatten sich zu einer Pyramide aufgetürmt.
Die Stellen wurden in Berliner Tageszeitungen ausgeschrieben; innerhalb von zwei Wochen gingen 10 000 Bewerbungen ein. Die westdeutschen Beamten saßen in der ehemaligen Stasi-Zentrale in der Ruschestraße und waren ratlos: Nach welchen Kriterien sollten sie die Briefe ordnen? Nach Beruf der Bewerber: Krankenschwester, Ingenieur, Fabrikarbeiter? Fast alle Bewerbungen stammten aus Ost-Berlin. Das graue, billige Papier der Briefumschläge staubte beim Öffnen. Die Beamten waren wenig begeistert: Ihre Anzüge waren abends von einer dünnen Papierschicht überzogen. Glücklicherweise verfügte der Aufbaustab über eine Kasse, aus der kleinere Auslagen beglichen werden konnten, und so schickte ich einen Mitarbeiter nach West-Berlin, um Arbeitskittel zu kaufen.
Wir waren rund um die Uhr beschäftigt. Neben der praktischen Aufbauarbeit in Berlin liefen die Verhandlungen mit Bonn über die für unsere Arbeit sehr wichtige Benutzerordnung während der Übergangszeit bis zur Verabschiedung des neuen Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Für den noch eingeschränkten Umgang mit den Akten entsprechend dem DDR-Gesetz und dem Einigungsvertrag war diese juristische Grundlage unbedingt erforderlich. Die Benutzerordnung ermächtigte uns nur
zur Überprüfung von Personen bei Anfragen von Institutionen und Behörden wie der Justiz. Unsererseits durften wir im Laufe des Jahres 1991 selbst bei schweren Fällen noch keine Stasi-Verstrickungen aufdecken oder Strafanzeige stellen. Ich entwarf diese Regeln ebenfalls handschriftlich an den Wochenenden in meinem Gästehaus-Domizil Rauchfangwerder. In Bonn war man bürokratisch und wollte - zu Recht - alles bedenken. Doch es gelang, die Benutzerordnung schon am 15. Dezember 1990 in Kraft treten zu lassen.
Heute hat sich die Behörde nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch bei der Regierung großes Ansehen erworben. Damals, in den ersten Wochen ihrer Existenz, waren wir in Bonn ein Nichts: ein unbekannter Sonderbeauftragter, zudem aus den Reihen des Neuen Forums, und ein unbekannter bayerischer Staatsbeamter, der noch nicht einmal eine offizielle Ernennung für seine von uns eigenwillig als »Direktor« deklarierte Stelle besaß. Ob wir unsere politischen Ziele würden durchsetzen können, war keineswegs entschieden.
Ich erinnere mich an ein Gespräch im BMI in Bonn. Da saßen Herr Gauck und ich zwanzig bis dreißig Vertretern vom Verfassungsschutz, militärischen Abschirmdienst, BND und Bundeskriminalamt sowie Beamten des BMI gegenüber, die aus verschiedenen, für Sicherheit zuständigen Abteilungen kamen. Sie gaben uns deutlich zu verstehen, dass die von uns angestrebte weite Öffnung der Akten einerseits und der dagegen restriktive Zugang zu den Akten für die Sicherheitsbehörden andererseits nicht zu akzeptieren seien. Mochte die DDR auch untergegangen sein, so belehrten uns diese Beamten, das Wissen über die Staatssicherheit dürfe nicht vollständig an die Öffentlichkeit dringen. Denn das Know-how des einen Nachrichtendienstes ist häufig auch das Know-how eines anderen Dienstes, und sei es der
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