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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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hatte mich entschieden.
    Am Sonntag, dem 14. Oktober, machte ich mich mit einem vollgepackten Auto auf den Weg nach Berlin, am Montag, dem 15. Oktober, trat ich meinen neuen Dienst an - nicht einmal zwei Wochen nach der Wiedervereinigung. Der bayerische Datenschutzbeauftragte hatte mich frei gegeben. Allerdings war ihm auch gar nichts anderes übrig geblieben, denn ich hatte einfach erklärt: »Ich helfe beim Aufbau der Stasi-Unterlagen-Behörde.« Mein Gehalt zahlte weiterhin der Freistaat Bayern. Bis ich offiziell abgeordnet wurde und eine entsprechende Urkunde erhielt, hat es noch Monate gedauert. Richtig übernommen in den Geschäftsbereich des BMI wurde ich erst im Jahr 1992.
    In Berlin überschlugen sich die Ereignisse. Was sonst in einem Jahr geschieht, geschah damals in einem Monat. Noch im Oktober 1990 traf eine Delegation aus dem BMI unter Leitung des Staatssekretärs Franz Kroppenstedt in Berlin ein. Herr Gauck und ich wurden in die Außenstelle des BMI in der Glinkastraße
bestellt. »Ich erwarte«, sagte Kroppenstedt mit Blick auf mich, »dass bereits in den nächsten Wochen die ersten Bescheide über Stasi-Verflechtungen hinausgehen, damit die Behörden wissen, ob sie IM in ihren Reihen haben.«
    Der Staatssekretär stand unter politischem Druck, doch zu diesem Zeitpunkt hatte niemand auch nur annähernd einen Überblick über die Hinterlassenschaften des MfS oder dessen interne Organisation. Im Archiv in der Normannenstraße saßen lediglich ein paar Mitarbeiter vom Bürgerkomitee und kooperative Altkräfte, die Akten suchen und uns zur Verfügung stellen konnten. Das war alles. Wenig später kam ein Brief vom BMI, in dem wir um eine Aufstellung unserer Mitarbeiter gebeten wurden. Herr Gauck und ich sahen uns ratlos an.
    In unserem Büro im ehemaligen ZK war die Lage sehr unübersichtlich. Abgesehen vom kleinen Kern der Mitarbeiter waren es täglich andere, die hereinschauten, um sich auszutauschen. Die Akten störten meistens nur. Man legte sie auf das Fensterbrett oder auf die Couch. Und wenn man auf der Couch sitzen wollte, wurde der Aktenstapel eben dorthin verschoben, wo gerade Platz war.
    Die Zuständigen in Bonn hatten keine Ahnung, wie es bei uns aussah. Das Einzige, was sie mitbekamen, war das Problem mit dem Telefon: Man musste sich bei der Zentrale anmelden und wartete dann oft stundenlang auf die Verbindung, denn es gab viel zu wenige Leitungen nach Westdeutschland. Einmal war ich gerade im Waschraum, als Herr Gauck hereinstürmte: »Herr Kroppenstedt ist am Apparat, er braucht Sie dringend - und wir haben eine Leitung!« Das war damals eben nicht so, dass man in fünf Minuten zurückrufen konnte.
    Es gab viel guten Willen in den ersten Wochen, aber keinerlei Struktur. Ich stellte fest, dass wir nur eine einzige Schreibmaschine hatten, noch dazu eine mechanische, bei der das »e« kaputt war, der Buchstabe, der im Deutschen am meisten vorkommt. Um dieses »e« zu tippen, musste man den Typenhebel mit dem Finger kraftvoll nach vorn schnipsen, dann schlug das
»e« zwar immer noch zu schwach auf, war aber sichtbar. Unsere argwöhnisch beäugte Behörde musste ja nicht perfekt sein, aber auch nicht jenseits des grünen Bereichs. Ihr durften also keine gravierenden Fehler unterlaufen. Weil es keinerlei Vorlagen gab, habe ich die ersten Bescheide selbst entworfen, handschriftlich, nachts, weit draußen im Berliner Bezirk Rauchfangwerder, der schon auf keinem Stadtplan mehr eingezeichnet ist, in einem Zimmer des ehemaligen Gästehauses des DDR-Innenministeriums, in dem ich meist der einzige Gast war. Elisabeth Ladwig hat diese Briefe anschließend mit Mühe getippt.
    Einmal stieß ich auf eine Registriernummer, die mir sehr vertraut vorkam. Da stellte sich heraus, dass die junge Frau, die die eingehenden Anfragen registrierte, immer wieder bei 1 anfing, wenn 100 voll waren. Danach habe ich einen Ingenieur mit der Registratur beauftragt. Als Arbeitsplatz stand ihm leider nur das relativ geräumige, fast bis zur Decke gekachelte Bad mit Klo für den Reichsbankpräsidenten zur Verfügung.
    Nach einer Woche zog ich in ein Büro ein Stockwerk höher. Meine »Sekretärin« wurde die junge Frau, die die Registratur verwaltet hatte. Ich erhielt ein altes DDR-Diktiergerät und musste die Bescheide an die Behörden nicht mehr handschriftlich notieren, sondern konnte sie einfach aufsprechen. Doch statt »Bericht« las ich nun überall »Beichte« über den Zustellungsbescheiden. All diese Seiten mussten neu

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