Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
leuchten.
Berlin. Mai
V ielleicht ist es ein schöner Maitag gewesen wie heute, der 23. Mai vor genau sechzig Jahren, als das Grundgesetz aus der Taufe gehoben wurde.Viele denken heute zurück - auch ich.
Aus dem Erinnerungsdunkel kommt mir plötzlich ein kleiner Junge entgegen. Ich sehe ihn auf einem lichten Waldweg nach Hause gehen, den Tornister auf dem Rücken, einen Holzknüppel in der Hand. Er ist bester Laune, denn die Schule ist vorbei, aber etwas arbeitet noch in ihm. Rechts und links am Weg steht hohes, blühendes Maigras. Er drischt bei jedem zweiten Schritt hinein, das Gras sinkt um, er schlägt und spricht, immer dieselben drei Wörter, eine Zornesformel, die er gerade in der Schule gelernt hat: »Das Bon-ner Grundge-setz. Das Bonner Grundge-setz«. Am Ende des Waldwegs schaut er voller Befriedigung zurück. Er hat eine Spur gezogen, die niemand übersehen kann. Es musste etwas aus ihm heraus, was in der Schule in ihn hineingekommen war.
Er hatte gehört von Bonn, jener Stadt drüben im Westen, in der böse Menschen regieren: Spalter, die gegen die Einheit des Vaterlands sind, Ausbeuter, Imperialisten. Die Amerikaner unterstützen diese schändliche Brut - das hätte er sich denken können, die kannte er schon. Sie flogen nachts über die Felder in der DDR und warfen Kartoffelkäfer ab, um unsere Ernte zu vernichten. Wir Schulkinder haben das allerdings nicht zugelassen, im ganzen Land krochen wir durch die Reihen und inspizierten jede Pflanze, auch wenn uns die Amerikaner in Mecklenburg heimtückisch ins Leere laufen ließen. Bei uns haben wir nicht einen einzigen Käfer gefunden - was unsere Wut auf die Amerikaner nur noch steigerte.
Aber die Kinder im Land blieben wachsam, auch meine Freunde in Wustrow. Sie zogen sogar gern in den Kampf, denn
sie mussten tun, was sie sonst nicht durften: richtig Krach machen. Eines schönen Fischlandmorgens liefen Scharen von Kindern durch das Dorf, schlugen Topfdeckel gegeneinander oder trommelten mit Kellen und Löffeln auf Töpfe und Kannen. Und alle brüllten ein ums andere Mal: »Ruhrsta-tut und Marshallplan, in den gro-ßen Ozean! Plumps hinein!«
Es muss ein furchtbares Erschrecken unter den Amerikanern gegeben haben, als die Wustrower Kinder sich erhoben und den Feinden der Menschheit ihre Grenzen aufwiesen. Die kleine Heidi war so angetan von der großen Mobilisierung, dass sie heimlich den Jungen Pionieren beitrat, obwohl ihre Mutter das verboten hatte. Stolz trug sie ihr blaues Halstuch, immer wenn die Mutter es nicht sehen konnte.
Der damaligen Kinderbegeisterung war es nicht abträglich gewesen, dass die einen nicht wussten, was das Bonner Grundgesetz war, und die anderen nicht, was ein Ruhrstatut oder gar ein Marshallplan. Sie waren einfach mitgerissen in diesen frühen Tagen. Schneller als erwartet würden sie aber mit der Wirklichkeit des Lebens konfrontiert werden, die Begeisterung verlieren und auf Distanz gehen. Und der Mann, der sich jetzt erinnert, war auf Abstand gebracht worden, ehe er den Abstand gesucht hatte.
Nun, im Moment der Rückschau, ist all das lange her. Er ist in seinem siebzigsten Lebensjahr, und das meiste hat er gelebt. Wie eigentümlich, ganz und gar erstaunlich und manchmal auch geheimnisvoll, dass er angekommen ist, obwohl er nie einen Fahrplan gesehen hat. Er wünschte sich, dass er im fernen Mecklenburg stünde, in der Nähe der Heimat seiner Vorfahren, dort, wo es einen Ort gibt mit dem Namen »Siehdichum«. Man steht etwas erhöht und erfasst in der Rückschau den Weg, den man gekommen ist, die Wege, die Hecken, das Land, den See. Ach, so sieht das aus, das Ganze. Lächeln, schüchtern.
Aber heute ist er in Berlin unterwegs, in der Mitte seiner Hauptstadt, die fünfzig Jahre lang die Hauptstadt seiner Unterdrücker war. Heute feiert sie den sechzigsten Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes. Und zum dreizehnten Mal ist der Präsident der Bundesrepublik gewählt worden. Es ist Sonne über Berlin.
Es ist Sonne in mir.
Ich setze mich auf die Mauer vor dem Reichstag, hinter mir weht die schwarzrotgoldene Fahne.
»Komm«, sage ich zu meiner Begleiterin, »nimm den Fotoapparat und fotografiere mich.«
Die Frau ist intelligent und aus dem Westen, sie sagt: »Aber doch nicht hier, vor dieser Fahne!«
»Doch«, sage ich, »genau hier!«
Zweite Auflage
Copyright © 2009 by Siedler Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Lektorat und Satz: Ditta Ahmadi, Berlin
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