Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Verfolgung, so dass Forscher und Journalisten diese Akten mit Genehmigung der Betroffenen einsehen dürfen.
Die politisch sicher wichtigste Aufgabe der Behörde war und ist, den Opfern von einst die über sie gesammelten Unterlagen zur Verfügung zu stellen, damit sie erfahren, wie ihr persönliches Schicksal unter Umständen durch den Staatssicherheitsdienst beeinflusst wurde.
Kein Mitarbeiter der Behörde wird je den Tag vergessen, an dem zum ersten Mal Akten eingesehen werden konnten. In der Weihnachtspause hatten wir rund 20 000 Antragsformulare drucken lassen. Als ich am 2. Januar 1992, einem Donnerstag, zum Dienst kam, sah ich schon von weitem vor der Behörde in der Behrenstraße Hunderte von Menschen, die ihre Akten einsehen wollten, möglichst sofort. Jeder wollte der Erste sein. Es gab unvorstellbare
Szenen. Unser Sicherungspersonal konnte die Andrängenden nur mit Mühe und inzwischen gelernter Freundlichkeit zurückhalten. Zum Teil wurden die Formulare an Ort und Stelle ausgefüllt, am Abend waren alle Formblätter verteilt. Wir konnten die Antragsteller nicht mehr bedienen. Tageszeitungen druckten das Formblatt daraufhin nach, Kopien wurden angefertigt. In den ersten hundert Tagen stellten 420 000 Menschen Anträge auf private Akteneinsicht, gleichzeitig gingen 130 000 Anträge auf Überprüfung von Personen im öffentlichen Dienst ein. Anders als die anderen Ostblockländer hatten wir einen rechtsförmigen Zugang zu diesen vergifteten Papieren geschaffen. Unsere Mitarbeiter merkten, wie sehr man sie brauchte und wie wichtig das war, was sie taten. Wir waren stolz und froh, dass wir das Bedürfnis nach Aufklärung befriedigen konnten, auch wenn wir dem Ansturm so vieler Menschen natürlich längere Zeit in keiner Weise gewachsen waren.
Wir hatten zum 2. Januar 1992 etwa fünfzig bekannte und weniger bekannte Stasi-Opfer zu ihrer Akteneinsicht geladen. Die Bürgerrechtler dachten: Endlich! Sie hatten nicht verstanden, warum wir schon beinahe ein Jahr Auskünfte über Stasi-belastete Mitarbeiter ausgegeben hatten, während sie, die Observierten, vertröstet worden waren. So hatten sie sich die Herrschaft des Rechts nicht vorgestellt. Jürgen Fuchs hatte den »Geraer Weg« propagiert: Danach sollten die »OV-Leute«, also diejenigen, die als Observierte in einem Operativen Vorgang erfasst waren, bei der Einsichtnahme bevorzugt werden. Wir haben den Opfern bei unserer Arbeitsverteilung tatsächlich großes Gewicht eingeräumt - aber erst, nachdem mit der Verabschiedung des Gesetzes eine juristische Grundlage geschaffen war. Solange der Bundestag die Einsicht in die personenbezogenen Akten nicht genehmigt hatte, waren uns die Hände gebunden. Das war nicht immer leicht auszuhalten. Im Umkreis von Bärbel Bohley hatte man kurz nach der Stasi-Besetzung propagiert: »Jeder nimmt seine Akte mit nach Hause!« Dass damit die Opfer von einst entgegen jedem Datenrecht in den Besitz von Informationen über unbescholtene Dritte
gelangen konnten, hat man in der Situation des Umbruchs gar nicht bedacht.
Der 2. Januar, als die Akten endlich zugänglich waren, dürfte jedem Bürgerrechtler jedoch als ein Tag des Triumphes über die Stasi in Erinnerung bleiben. Wolf Biermann kam mit Picknickkorb und Thermoskanne, andere mit Frühstücksbeuteln. Vor den Geladenen stapelten sich die Akten, die wir in Dutzenden von Aluminiumkästen aus den Altbeständen der Stasi herbeigeschafft hatten. Um unseren guten Willen zu zeigen, hatten wir die Akten zum Lesen frei gegeben, noch bevor sie bis ins Detail auf die Rechte Dritter hin durchgegangen und entsprechend geschwärzt worden waren. Die Bürgerrechtler durften sich Notizen machen, erhielten aber keine Kopien. Auch die Einsicht in fremde Akten handhabten wir noch großzügig. Heute müssen selbst Eheleute dem Partner eine schriftliche Erlaubnis zur Einsicht erteilen. Hansjörg Geiger führte als Beispiel immer an, dass jeder darüber entscheiden können muss, ob der Ehepartner aus den Akten von einem verheimlichten Ehebruch erfahren soll.
Im Januar 1992 gingen die Bürgerrechtler noch von Tisch zu Tisch und beugten sich gemeinsam über die Akten, deren Akteure ihnen oft vertraut waren. Es herrschte eine große Aufregung. Alle wollten wissen: Wie wurden die Akten überhaupt geführt? Was wussten sie von mir, von uns? Wer hat unter Umständen aus meinem Freundes-, Verwandten-und Bekanntenkreis über mich berichtet? Damals wurde entdeckt, dass Gregor Gysi, den beispielsweise
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