Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Sozialstaatsmodells sehen die Gefahr einer Entmächtigung des Einzelnen und mangelnder Anreize zur Eigenverantwortung.
Ständig neu will auch ausgehandelt werden, wie weit die Freiheitsrechte des Einzelnen begrenzt werden sollen oder müssen, um die Freiheit der Gesamtheit gegen terroristische Bedrohungen in einer zunehmend globalisierten Welt zu schützen. Gemeinsam müssen wir uns auch mit der Frage auseinandersetzen, ob und wie weit freiheitliche Gesellschaften Gewalt anwenden und militärische Mittel einsetzen wollen, um außerhalb ihres eigenen Territoriums friedenserhaltende Maßnahmen durchzuführen oder den Schutz bedrohter Völker und Menschen zu gewährleisten.
Martin Luther hat einmal gesagt: Kirche sei Kirche nur dann, wenn sie sich als ecclesia semper reformanda verstehe - als sich immerfort reformierende Kirche. So verstehe ich inzwischen Freiheit und Demokratie: als eine societas semper reformanda .
Die Aufforderung zu beständiger Erneuerung richtet sich keineswegs nur an Instanzen und Organe des Staates, sondern in gleicher Weise und vor allem an die einzelnen Bürger.
Wenn die Freiheit ihre Strahlkraft völlig verliert, verstärkt sich, was wir bereits massiv erleben: Der Mensch tauscht seine Existenz als Citoyen gegen eine Existenz als Konsument. Er geht nicht mehr wählen, beteiligt sich an keiner Bürgerinitiative, zieht sich aus dem öffentlichen, dem politischen Raum zurück. Nichts gegen Konsum, aber Konsum als einziger, als zentraler Lebenszweck macht die Menschen nur so lange glücklich, bis sie ihre - sicher variablen - Grundbedürfnisse gestillt haben. Da sollte man sich eher Mitbürger wünschen, die auf dem Weg des Lernens auch den Irrtum riskieren als solche, die zwar nie an irgendetwas schuld sind, aber durch ihre Gleichgültigkeit die Gestaltung des Öffentlichen aus der Hand geben und sich freiwillig in eine Situation der Ohnmacht begeben.
Bei meinen ersten Reisen in den Westen habe ich mich oft
gefragt, warum Mut und Zivilcourage so gering notiert und selten praktiziert wurden. Keiner hatte die Menschen gehindert, diese Tugenden zu entwickeln. Später waren mir jene aufgefallen, die ohne jeden Zwang auf die Wahrnehmung bürgerlicher Rechte verzichteten. Hatte ich bis dahin gedacht, dass Furcht vor der Freiheit ein alleiniges Problem der Übergangsgesellschaften sei, habe ich nach diesen Erfahrungen und der Lektüre von Erich Fromm gelernt, dass es sich vielmehr um eine anthropologische Konstante handelt.
Ganz offensichtlich gibt es keine ungestörte Beziehung zur Freiheit. Schon ihre zwei Gesichter mögen uns verwirren. Eines erweckt Vertrauen - es verspricht Selbstverwirklichung, Gestaltungsmöglichkeiten, Zukunft. Es lässt in der Begegnung und der Nähe zum Mitmenschen Empathie und Verantwortung wachsen, das Grundelement moralischen Verhaltens. Das andere Gesicht der Freiheit hingegen lässt uns erschrecken - wenn es als Raubtierkapitalismus, nacktes Kalkül, Gruppenegoismus, als unethischer Forschungseifer letztlich den Egoismus fördert und die Solidarität und das Mitleid mit dem Anderen neutralisiert. Das Erschrecken über diese Seite der Freiheit ist letztlich ein Erschrecken über uns, über das destruktive Potential in uns.
Schiller, der große Liebhaber der Freiheit, wusste um die Gefahr der schrankenlosen Freiheit, in der »Weiber zu Hyänen« würden und die Gesittung in Gefahr gerate. Freiheit verpflichtet uns daher immer wieder, uns der Moral in den zwischenmenschlichen Beziehungen wie auch der Werte in unserem Gemeinwesen zu vergewissern.
Als Bürger der Bundesrepublik habe ich in den letzten zwanzig Jahren zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Freiheit tatsächlich im Alltag der freien Gesellschaften einen Teil ihres Glanzes verliert. Als Ostdeutscher, als Betroffener einer osteuropäischen Verlustgeschichte weiß ich aber deutlicher als die, die immer über sie verfügt haben, dass wir, wenn wir uns nicht immer wieder von ihr beflügeln und befähigen lassen, auch an Kraft und Willen zur Veränderung einbüßen.
Mag sein, dass Jahre kommen, in denen die Freiheit noch mehr an Glanz verliert. Mag sein, dass uns ungewohnte Lasten auferlegt werden. Mag sein, dass dann allgemeiner Verdruss das Land noch mehr einhüllt. Aber ich werde mich erinnern: Wir haben sie ersehnt, sie hat uns angeschaut, wir sind aufgebrochen, und sie hat uns nicht im Stich gelassen, als uns in der Freiheit neue Herausforderungen begegneten. Es kann nicht anders sein: Sie wird mir immer
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