Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
»helles Bewusstsein«. Es gilt zu berücksichtigen, was Alexander und Margarete Mitscherlich, Horst-Eberhard Richter und viele andere Soziologen und Psychologen über die Spätfolgen von Diktaturerfahrungen schrieben: Wir können nicht leicht von der Vergangenheit loskommen, weil ihre Schatten in die folgenden Generationen reichen.
München, November 2007. Der Preis »Gegen Vergessen - Für Demokratie« wird im Jüdischen Gemeindezentrum an das Maximilian-Kolbe-Werk für jahrzehntelange Versöhnungsarbeit in Polen vergeben. Auf dem Bild neben mir Friedrich Kronenberg, der Präsident des Werks, Charlotte Knobloch, Vorsitzende des Zentralrats der Juden, und Marek Prawda, Botschafter der Republik Polen.
Wir lernten und stehen weiter mitten in diesem Lernprozess. Es ist ein steiniger Weg, den wir gehen, denn Aufarbeitung bedeutet umfassende Anerkennung der Fakten, bevor wir uns eine Meinung bilden; Zulassen von Sympathie und Mitleid mit den Opfern, statt in kompensatorisches Selbstmitleid zu verfallen. Es geht - wie in der individuellen Psychotherapie - nicht ohne Schmerzen ab, wenn eine Gesellschaft »im Ernst« auch mit ihren
Gefühlen dorthin geht, wo sie einst gelebt, gewirkt, gelitten und mitgemacht hat.
Wie Individuen dem Impuls erliegen, durch selektives Erinnern den Schattenseiten der Vergangenheit zu entfliehen, können auch Kollektive jene Seiten des Unrechtsstaates auszublenden versuchen, die Erschrecken, Scham, Trauer und Reue auslösen und bei den Opfern auch Gefühle der Kleinheit und des ohnmächtigen Verlorenseins hervorrufen. Die Nostalgie schafft sich beständig eine Scheinwelt. Ganz ohne politischen Missbrauch ist sie äußerst beliebt, aber es ist nicht die Dummheit, die die Menschen an ihr lieben, sondern die Freiheit von Schmerz.
Am Beispiel der Bundesrepublik in den Jahrzehnten nach dem Krieg kann man die verschiedenen Etappen der Aufarbeitung ablesen. Es hat gedauert, bis sich die Fakten gegen die Meinungen durchsetzen konnten; es hat gedauert, bis sich die Nation nicht primär als Opfer verstand, sondern sich zu Schuld und Verantwortung bekannte; und es will noch immer gelernt sein, dass Schuld und Leiden nicht allein Teil der kollektiven Geschichte sind, sondern jeder einzelnen Familienbiographie. Noch immer vermeiden Teile der dritten Generation, sich den Belastungen in der eigenen Familie zu stellen - sei es der Schuld (»Opa war kein Nazi«), sei es dem Leid etwa der Vertreibung, das in den letzten Jahren wieder stärker ins Bewusstsein gerückt ist.
Im Osten haben wir erst die Hälfte des Weges geschafft. Ein wirklicher Abschied und der damit verbundene Mentalitätswandel sind erst von einem Teil der Bevölkerung vollzogen. Die meisten nehmen noch eine merkwürdige Wechselhaltung ein, ihr Erinnern schwankt zwischen betulicher Nostalgie und wachen Momenten »hellen Bewusstseins«. Wir, die wir so lange als Unterdrückte gelebt haben, sind Menschen in einer Unterwegs-Situation. Wir wissen zwar schon, wie Abschied definiert wird, aber das Wissen allein löst alte Bindungen nicht automatisch auf.
Keiner liebt den Schmerz. Aber der Schmerz über so viel geraubte Freiheit, soviel Demütigung und beständige Ohnmacht kann nicht durch einen einfachen Willensakt abgetötet werden.
Der Opportunismus, die Arroganz und die Schuld der Anderen, der Mitläufer und einstigen Machthaber, schreien geradezu nach Rechenschaft sich selbst und Anderen gegenüber.
Erst wenn wir den verwirrenden Einbruch der Gefühle nicht mehr abwehren, werden wir uns bewusst von ihnen verabschieden und die Bindung an das Alte lösen können.
»Freiheit, die ich meine«
Z wei Männer sitzen in einem Raum, reden und hören einander zu. Es ist meine zweite Amtszeit als Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen; Professor Jürgen Körner will mich zu einem Kongress von Psychotherapeuten einladen. Er ist nicht nur an meinen dienstlichen Aufgaben interessiert, er will wissen, was mich treibt. Das Gespräch geht weiter und tiefer, als es bei Dienstgesprächen üblich ist. Und plötzlich zähle ich aus dem Stegreif auf, was er eigentlich viel besser kennt als ich. Dort, wohin ich erst vor kurzem gekommen bin, gibt es Kostbarkeiten, die dort, wo ich vorher gelebt hatte, nur in schäbigen Resten oder überhaupt nicht existierten.
»Wo ich jetzt lebe«, so höre ich mich sagen, »möchte ich sein, aber ich kann immerfort auch gehen. Wo ich jetzt lebe, habe ich Grundrechte, garantiert durch die Verfassung: Gewissensfreiheit,
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