Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
kommentiert. Mit der Gesellschaft gelang der Einparteienherrschaft Ähnliches. Erst nahm sie Geld und Besitz, dann Bürgerrechte, Menschenrechte, unabhängiges Recht und unabhängige Richter, und sie begrub die Freiheit in der Wirtschaft, in Kunst und Kultur. Die Entfremdungserscheinungen in der Gesellschaft überboten bei weitem das, was die marxistischen Theoretiker als Entfremdung im Kapitalismus angeprangert hatten.
Das alles war kein Langzeitversuch in einem Laboratorium, sondern ein Experiment am lebenden Objekt. Und wir, festgehalten hinter der Mauer, mussten uns nolens volens anpassen.
Ich erinnere mich noch gut, wie eine ganze Gesellschaft ins
Glied und unter einen einheitlichen Willen gezwungen werden sollte: schon in den Kindergärten und Schulen, wenn Kinder mit dem blauen Halstuch der Jung-Pioniere und dem roten der Thälmann-Pioniere zu den wöchentlichen Fahnenappellen antreten mussten und Eigensinn ausgegrenzt und bestraft wurde. Der Staat forderte Mitgliedschaft: von der Jugend in der FDJ, von den Erwachsenen im FDGB, meist auch in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschft (DSF), tausende erwachsene Männer sollten zusätzlich Mitglieder der Kampfgruppen in den Betrieben sein, wo sie mit Waffen und in militärischen Verbänden ihre Systemtreue beweisen mussten.
Zu wählen war nur zwischen dem Grad der Anpassung.
Die einen verinnerlichten die politische Linie, die Schule und Universität vermittelt hatten, blendeten Widersprüche aus und bejahten, was sie geprägt hatte. Sie hatten kein Problem damit, in die Partei einzutreten - denn nur als Parteimitglieder stiegen sie auf. Allüberall wurden führende Stellen mit Genossen der SED besetzt. Keine einzige Schule im Land, in der der Direktor nicht in der SED gewesen wäre.
Und weil sie aufsteigen wollten, passten sich selbst jene an, die dem »Politikzeug« kein Wort glaubten. Sie taten so, »als ob«, lebten pro forma angepasst und brav eine unüberzeugte Minimalloyalität. Innerlich gehörten sie nicht dazu, äußerlich waren sie immer dabei. Aus objektiver Machtlosigkeit, die vom übermächtigen Staatsapparat erzwungen worden war, wurde so im Laufe der Zeit subjektive Ohnmacht: Sie verloren das Vertrauen in ihre individuelle Potenz, zweifelten an ihrer Fähigkeit, sich verwirklichen zu können, und verzichteten schließlich darauf, unter diesen Bedingungen überhaupt noch Einfluss ausüben zu wollen.
Ich weiß auch noch allzu gut, dass fehlende Anpassung Karrieren zerstörte und Biographien tiefgreifend veränderte, tausendfach und unspektakulär im ganzen Land. Zum Beispiel bei Eckart, meinem Bruder: Als er, der sich als Seemann hoch gearbeitet hatte vom Maschinenassistenten zum Ingenieur, in der Kaderabteilung seiner Reederei erschien, um sich mit seinem Patent C 6 als leitender
Ingenieur (Chief) an Bord eines Schiffes zu bewerben, traf ihn ein skeptischer Blick: »Und bist du schon in der Partei?«
»Nein«, antwortete mein Bruder wie Tausende in dieser Situation vor ihm. Er fühle sich für diesen wichtigen Schritt noch nicht reif.
Der Ausgang war nahezu vorprogrammiert: Wenn er noch nicht reif für die Parteimitgliedschaft sei, so die kühle Antwort, sei er auch nicht reif für eine Führungsaufgabe an Bord. Er müsse wohl weiter als zweiter oder dritter Ingenieur fahren. Mein Bruder war, wie er war. Er machte die Tür von draußen zu. So einer wurde kein Chief. Später ließen sie ihn nicht einmal mehr auf See fahren; er, der Seemann, musste an Land arbeiten.
Schon vor Jahren ist mir Václav Havels Sentenz in die Hand gefallen, der 1990 das Leben in den östlichen Staaten mit dem Leben in einem Gefängnis verglich: mit einem festen Tagesablauf, fest zugemessenen Rationen, zugewiesenem Nachtlager, mit einem strengen Reglement. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum wir uns zunehmend in kleine Nischen und Gegenwelten zurückzogen, in Freundeskreise, in Gemeinden, in Künstlerzirkel, in Abrisshäuser, auf das Land oder in kulturelle Inseln der großen Städte. Nur so wird verständlich, warum der kleine Spielraum und die kleinen privaten Freiheiten, die am Status unserer generellen politischen Abhängigkeit und Ohnmacht nicht rütteln konnten, doch eine große Freude, viel Wärme und Nähe in uns auszulösen vermochten - eben jene Intensität des Erlebens, die wir später in der großen Freiheit vermissten.
Und so befällt uns manchmal die Trauer über den Verlust dieser Intensität, obwohl wir uns keine einzige
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