Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
ausgebildeter Mentalitäten, die wenig mit Charakter, aber sehr viel mit den unterschiedlichen Trainingsmöglichkeiten zu tun haben.
Die größere Anfälligkeit im Osten für »fürsorgliche« Politik
und die Existenz als Landeskind statt als Citoyen dürfte sich noch in der zweiten Generation fortsetzen. Distanz und Fremdheit bei den Einen und Bejahung der Freiheit bei den Anderen trennen Ostdeutsche häufig stärker voneinander als Ost-und Westdeutsche. Und noch lange wird es ein Gewinn der westlichen Zivilgesellschaft sein, Lösungen aus Diskurs und Debatte zu entwickeln, während viele im Osten auf »einfache Wahrheiten« setzen. Doch man muss schon denkfaul und erfahrungsresistent sein, wenn man, wie es angesichts von Finanzkrise und Verunsicherungen durch eine globalisierte Welt in Deutschland geschieht, ausgerechnet sozialistischen und kommunistischen Ideologen wieder glaubt, die einen Systemwechsel propagieren. Warum sollten gerade jene, die in der gesamten Politikgeschichte weder Wohlstand noch Freiheit haben schaffen können, die Bewältigung der neuen Krisen meistern?
Unter denen, die uns vom linken Rand her zum Systemwechsel aufrufen, gibt es zu viele, die agieren wie die reaktionären Verteidiger der Ancien régimes im 19. Jahrhundert, die zurück wollten zum Feudalstaat. So wie jene fordern sie die Wiederherstellung einer überlebten Situation. Doch das kommunistische Gesellschaftsprojekt liegt hinter uns, nicht vor uns. Wer den Kapitalismus abschaffen will, schüttet das Kind mit dem Bade aus. Wir werden den Fußball nicht abschaffen, weil einige Spieler foul spielen, und wir werden nicht den ganzen Radsport verbieten, weil einige Fahrer dopen. Wer Freiheit will, muss sie auch in der Wirtschaft wollen. Doch wie im Raum der Politik gilt es auch in der Wirtschaft, die Freiheit so zu verstehen wie Demokraten - als Verantwortung gegenüber dem Ganzen.
Ganz sicher sind westliche Gesellschaften krisenanfällig und produzieren Ungleichheit - beides erfordert beständig Kritik und entgegenwirkende Maßnahmen. Aber dazu müssen wir nicht bei jenen in die Schule gehen, deren Gesellschaftssystem an mangelnder Freiheit zerbrochen ist. Unser Lernort ist ein anderer. In der Geschichte Nordamerikas und Europas finden wir die großen Freiheitstexte und -bewegungen, auf denen die universellen Menschenrechte
fußen. Freilich können auch auf dem Boden der Demokratie totalitäre Ideen gedeihen; wir haben den Sieg der Visionen einer Ordnung des Proletariats und der arischen Rasse erlebt.
Aber kein System ist so lernfähig wie die Demokratie. Sie ist gerade nicht das Einfache, das schwer zu machen ist, wie Brecht es vom Kommunismus behauptete. Sie ist das Komplizierte, was auch einfache Menschen machen können. Die Erwachsenen und Diktaturerfahrenen der Länder sollten zusammenstehen und für ein kleinformatiges Politikmotto werben: nicht für eine Gestaltung des absolut »Guten« und »Richtigen«, sondern des jeweils Besseren. Mit diesem Motto bleiben wir sehr irdisch und sehr nah an dem, was uns vor den Füßen liegt.
Wir brauchen keine neue Gesellschaftsordnung, sondern eine Demokratie, die auf aktuelle Probleme und Bedrohungen mit innovativem Geist und ermächtigten Demokraten reagiert.
In den zwanzig Jahren, die ich nun lebe, wo ich leben möchte, habe ich allerdings besser verstanden, warum Menschen im Westen oft nicht so begeistert von der Freiheit und Demokratie sind, wie ich es hinter der Mauer war und immer bleiben werde. Die Freiheit in unserer fragilen Demokratie ist noch nie vollkommen und nie vollendet gewesen. In der Polis der Athener existierte schon die Freiheit der Einen neben den unfreien Sklaven; im Amerika der Neuzeit gab es bei der Verkündigung der Unabhängigkeitserklärung noch Hunderttausende von versklavten Schwarzen; in den Industrienationen kämpften die Arbeiter noch jahrzehntelang für das Streikrecht und freie nteressenvertretungen; die Schweiz gewährte den Frauen das Wahlrecht erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Und dann: Die Freiheit der Einen will gegen die Freiheit der Anderen ständig neu austariert sein; nur ein ununterbrochener Diskurs kann einen - und sei es vorübergehenden - gesellschaftlichen Konsens schaffen. Amerika setzt stärker auf Autonomie und Eigenverantwortung des einzelnen Bürgers in der Gesellschaft; in Europa dominiert weitgehend der Sozialstaatsgedanke. Kritiker
des amerikanischen Modells vermissen die Fürsorge für die Schwachen; Kritiker des
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