Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Sekunde in die DDR zurückwünschen. Wir haben ein sehr besonderes Leben verloren, das wir uns selbst trotz Unfreiheit errungen und geschenkt hatten. Wir haben es für uns und gegen sie gelebt. Als dann alles vorbei war und die neue Zeit so schnell zu uns gekommen war, überfiel auch mich manchmal diese Traurigkeit, obwohl ich doch voller Dankbarkeit und Freude über die neue Freiheit bin. Vielleicht habe ich mich in jenem stürmischen Herbstfrühling mit seinen
hundert neuen Aktivitäten zu schnell dem Neuen überlassen und mich ohne Abschied von dem vertrauten Leben auf und davon gemacht. So holt sie mich jetzt manchmal ein, die Sehnsucht nach der Sehnsucht, die ihr Ziel verlor, als die erträumte Freiheit Wirklichkeit wurde. Die Freiheit als Sehnsucht hatte eine verlockende Kraft, sie war ungeschmälert schön. Die Freiheit als Wirklichkeit ist nicht nur Glück, sondern auch Beschwernis.
In Václav Havels Text folgt auf das Glück der Befreiung alsbald der Schock durch die neue Freiheit. Die äußere Ordnung und Sicherheit fehlte, für alles waren die Entlassenen nun selbst zuständig - aber zu dieser Eigenverantwortung waren viele nicht mehr fähig.
Eines Tages, schon in der neuen Freiheit, entdeckte ich bei einem Autor, dessen Hauptwerke ich lange kannte, einen Text, der mir half, diese Schwierigkeiten mit der Freiheit besser zu verstehen. Schon vor über sechzig Jahren entwickelte Erich Fromm in »Furcht vor der Freiheit« eine Theorie, nach der immer dann, wenn Menschen Freiheit oder mehr Freiheit erlangen, machtvolle Ängste und Fluchttendenzen einsetzen. So wie bei Adam und Eva. Indem sie Gottes Gebot missachteten und vom Baum der Erkenntnis pflückten, so sagt Fromm, lösten sie sich zwar von ihrer ursprünglichen Abhängigkeit und gewannen die menschliche Freiheit. Im nächsten Moment aber waren sie schon auf der Flucht, außerhalb des Paradieses, einsam miteinander und voller Angst. »Die neu gewonnene Freiheit erscheint ihm als Fluch.« Der Mensch, sagt Fromm, sei jetzt zwar frei von der süßen Knechtschaft des Paradieses, aber er besitze noch nicht die Freiheit zur Selbstbestimmung.
Schon Jugendliche können das erleben, die Freiheit von etwas. Pubertät und Eintritt ins Erwachsenenalter zeigen ihnen den Reiz dieser Freiheit. Wenn man erwachsen wird, wandelt sich das Freiheitsverständnis. In der Liebe zu einem Menschen, zumal einem Kind, zu einem Wert, zu Gott, der Kunst, der Natur, einer Arbeit, einem großen Ziel entsteht eine fundamentale Geneigtheit zu etwas außer mir selbst. Wer das erlebt hat, will alles tun,
dies zu bewahren. Die Übernahme von Verantwortung ist dann keine Zumutung und erst recht keine Überforderung. Zwar wird der Mensch auch von außen durch Normen, Eltern, Staat oder Religion in die Pflicht genommen. Aber ganz unabhängig davon existieren mit Sympathie und Liebesfähigkeit freundlichere Einladungen zur Verantwortung. Wer Freiheit als Verantwortung lebt, kommt letztlich bei den besten und tiefsten Potenzen an, die in uns Menschen angelegt sind. Und unsere Seelen belohnen uns dafür, wenn wir uns als Herausgeforderte und auf andere Wesen Bezogene verstehen. Wir erleben Gemeinschaft und Glück.
Aber Freiheit und Verantwortung verlangen eben ständige Wandlung, sind eine permanente Herausforderung. Die einen fühlen sich in ihrem Element. Sie werden Bürgermeister, gründen Firmen, erforschen unbekannte Kontinente, eine der Befreiten wird Regierungschefin. Andere aber sehen sich überfordert, werden kleinmütig, fühlen sich bestätigt in ihrer Auffassung, dass es wirkliche Freiheit nicht gebe, der Sozialstaat nicht sozial sei und die Chancengleichheit ein Traum bleibe. Deutschland hat in den letzten Jahren zu sehr auf diese Kleinmütigen und Zweifler geschaut. Ich auch. Manchmal durchaus im Zorn, wenn ich auf Wahlergebnisse und Meinungsumfragen im Osten geblickt habe. So viel Distanz zur Freiheit! Dabei war es bei vielen einfach nur Fremdheit.
Gefangen in lange eingeübter Ohnmacht, oft auch ohne Selbstbehauptungswillen, der eigenen Kräfte nicht sicher, politisch und intellektuell verunsichert, waren und sind Menschen anfällig für Konformität oder auch eine »erlösende« Ideologie: Gib mir deine Freiheit, ich gebe dir ein Ziel, den Sinn deines Lebens, du darfst die Zuständigkeit für dein Leben abgeben. Auch in Westdeutschland lassen sich diese Haltungen finden, allerdings weniger häufig. Doch die quantitativen Unterschiede sind Folge historisch unterschiedlich
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