Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Tagesordnung unseres Parlaments. Am 25. September 1995 saß ich im Deutschen Bundestag und wurde zum zweiten Mal gewählt - mit einer wohltuend großen Mehrheit.
Aber ruhig wurden die fünf folgenden Jahre auch nicht. So wie die Enquête-Kommission des Bundestages sich eine weitere Legislaturperiode mit der Aufarbeitung der SED-Diktatur befassen musste, spürte jeder in der Behörde, auch die Abgeordneten in deren Beirat: Hier steht uns eine Langzeitaufgabe bevor. Unsere Bildungsaufgaben würden wichtiger werden, also brauchten wir Ausstellungen, Veröffentlichungen und Podien, um öffentliche Debatten zu befördern. Und ständig die riesigen Mengen neuer Anträge … Nicht zehn oder fünfzehn Jahre, sondern vielleicht dreißig oder vierzig Jahre würden wir arbeiten müssen.
Am Ende meiner Amtszeit konnten sich viele eine »Gauck-Behörde« ohne Gauck nicht vorstellen. Abgeordnete sprachen bei mir vor, ich solle doch eine weitere Amtszeit akzeptieren. Mein
Verweis auf das Gesetz, das nur zwei Amtsperioden vorsah, beantworteten sie mit dem Hinweis, Gesetze könne man ändern. Das wollte ich nicht, meine Meinung stand fest: Ein gutes Gesetz nur wegen einer Personalie zu ändern, sei kein guter demokratischer Stil. Ich sah den Nutzen nicht ein. Ich kam ja selbst aus der Mitte der Demokratiebewegung, hatte nicht Stasi-Auflösung studiert, als ich mein Amt antrat. Und so würde eine andere glaubwürdige Persönlichkeit aus dem Osten an meine Stelle treten. Nicht eine »Gauck-Behörde« galt es zu erhalten, sondern die Inhalte des Gesetzes und die Arbeit der Behörde.
Genau so ist es gekommen. Mit Marianne Birthler trat eine entschlossene ehemalige Bürgerrechtlerin meine Nachfolge an. Es sollte nicht lange dauern, und aus der »Gauck-Behörde« war eine »Birthler-Behörde« geworden.
Als ich ging, hatte ich danke zu sagen, allen, die mit ihrer Treue, ihrer Kompetenz und ihrem Engagement unserem Werk gedient hatten. Viele kannte ich gar nicht, andere waren mir ans Herz gewachsen. Renate Liebermann saß im Vorzimmer, wo sie souverän waltete; so war sie mir besonders nah, konnte mir helfen, wo es erforderlich, und mich dirigieren, wo es nötig war. Was sollte ich künftig ohne sie machen?
Als ich zum Schluss alle Außenstellen besuchte, erfuhr ich nicht nur rituelle Abschiedsbekundungen, sondern erlebte bewegende Augenblicke menschlicher Nähe. Ganz unbekannte Menschen schrieben mir Briefe, verschiedene Fernsehstationen hatten zur Verabschiedung aus dem Amt Porträts produziert, die Zeitungen würdigten mich, und von Bundespräsident Johannes Rau erhielt ich das große Bundesverdienstkreuz mit Stern. Es war Oktober, die Zeit des Erntedankfestes in der Kirche. Zwar hatte ich schon lange nicht mehr als Pastor gearbeitet, aber ich fühlte wie einst: »Die Ernte war groß.«
Viele hatten erwartet, dass ich nach meinem Abschied ein politisches Amt übernehmen würde. Auch ich hätte es mir vorstellen können, aber als Parteiloser, der sich als linker, liberaler Konservativer versteht, sah ich mich nicht als Abgeordneter einer Partei im
Bundestag. Bald danach übernahm ich ein Ehrenamt, das mich noch einmal auf neue Weise mit der Aufarbeitung von Geschichte beauftragte. Als Vorsitzender des überparteilichen Vereins Gegen Vergessen - Für Demokratie bin ich Teil eines Netzwerkes von Menschen und Organisationen geworden, die neben der Aufarbeitung des Kommunismus die Erinnerung an die Barbarei der Nazi-Diktatur bewahren und die Demokratie vor alten und neuen Rechtsextremisten schützen wollen.
Mit Amtsnachfolgerin Marianne Birthler im Berliner Reichstag am Tag ihrer Wiederwahl als Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen 2005. Noch stärker als ich hat sie internationale Kontakte gepflegt und überall, wo unsere Erfahrungen gefragt waren, mit Rat und Tat geholfen. Auch wenn ihre zweite Amtszeit 2010 zu Ende geht, wird die Arbeit noch lange nicht erledigt sein.
Im Grunde bin ich meinem Lebensthema auch in den letzten zwanzig Jahren treu geblieben. Ich bin ständig unterwegs, um in der Öffentlichkeit den Wert der Freiheit im Bewusstsein zu erhalten. Nach einer Berufsbezeichnung gefragt, antwortete ich einmal: »Ich bin ein reisender Demokratielehrer.«
Es gilt, bei der Bewältigung der Folgen der kommunistischen Diktatur umzusetzen, was Theodor W. Adorno schon bei der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit gefordert hatte:
Dass man das Vergangene »im Ernst« verarbeite, seinen Bann breche durch
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