Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Weise stellte diese herbe, sehr entschlossene und eigensinnige Frau auch ohne Mann etwas dar. Mit einigen repräsentativen Möbeln aus der Kaiserzeit und einem Schrank voller Bücher gab sie sich einen bürgerlichen Anstrich; meine Mutter mag sie gelegentlich als arrogant und dominant empfunden haben. Sie wisse sehr viel, und man könne einiges von ihr lernen, schrieb meine Mutter jedenfalls an ihre Schwester Gerda, aber wenn Oma Gauck nicht in ihre Schranken gewiesen werde, mische sie sich permanent ein. Sie hat zur Schwiegermutter eine gewisse Distanz gehalten.
Meine Mutter war selbst eine eigenständige Frau, eine gelernte Bürofachfrau, in praktischen Dingen außerordentlich beschlagen und nicht bereit, sich in Fragen des Haushalts und der Kindererziehung unterzuordnen. Ihre Eltern Franz und Luise Warremann stammten vom Land. Ihr Vater war in Kukuk geboren, wo auch immer das liegen mag, ihre Mutter in Kassebohm bei Rostock.
Oma Warremanns Eltern waren bettelarme Landarbeiter. Als sie klein war, mussten jeweils zwei Kinder in einem Bett schlafen; bei den gemeinsamen Mahlzeiten gab es Stühle nur für Vater und Mutter, die Kinder standen um den Tisch herum. Die Schule hat Oma Warremann gerade einmal bis zur siebten Klasse besucht, dann musste sie arbeiten gehen. Über die Armut hat sie aber nicht ein einziges Mal geklagt. Sie erzählte vielmehr, wie sie sich Weihnachten freute über die kleinen Geschenke oder welch großes Erlebnis es war, mit zehn oder zwanzig Pfennig zu Fuß zum Pfingstmarkt nach Rostock zu gehen, um dort eine Waffel zu erstehen oder einmal mit dem Karussell zu fahren.
Mit sechzehn Jahren heiratete meine Großmutter den Maurergesellen Franz Warremann und zog mit ihm in eine Mietwohnung nach Rostock. Tochter Olga, meine Mutter, wurde 1910 geboren, Sohn Walter einige Jahre früher, Tochter Gerda einige Jahre später. Die Armut dauerte in der Ehe zunächst an. Oma erzählte, dass Opa Ende der Weimarer Republik am Wochenende
mit einen Rucksack voller Geld nach Hause gekommen sei, dieses Geld aber, wenn sie es nicht gleich in Ware umgesetzt habe, in der folgenden Woche schon wertlos gewesen wäre.
Glücklicherweise qualifizierte sich Großvater Warremann in den dreißiger Jahren zum Baumeister und begann, mit einem Betonmischer, ein paar Schubkarren und einigen Arbeitern ein Unternehmen zu betreiben: Franz Warremann, Baugeschäft. Auf alten Bildern sieht man ihn mit seinem Bierbauch stolz vor einem Opel stehen. Er hatte den Aufstieg geschafft. Ende der dreißiger Jahre errichtete er ein eigenes Haus im Rostocker Vorort Brinckmansdorf, ruhig gelegen, mit Garten und Blick über die Felder. Dieses Haus blieb für alle drei Warremann-Kinder, selbst als sie schon Familien hatten, ein Bezugspunkt und Zufluchtsort. Auch ich habe mehrfach in diesem Haus gelebt.
Mutters Familie hielt untereinander engen Kontakt. Besonders eng waren die Beziehungen meiner Mutter zu ihrer Schwester Gerda; es schien, als hätten sie sich in lebenswichtigen Fragen abgesprochen: Sie heirateten im Abstand von wenigen Wochen, in beiden Fällen waren die Auserkorenen keine Einheimischen. Außerdem gebaren sie ihre Kinder jeweils kurz hintereinander, mein Cousin Gerhard, der älteste Sohn meiner Tante Gerda, ist nur fünf Monate älter als ich.
In ihrem Wesen gab es allerdings Unterschiede. Die blonde, kurzhaarige Gerda, da waren sich alle einig, sei die hübschere der beiden Schwestern; die dunkelhaarige Olga, genannt Olly, die klügere. Gerda galt als die bessere Ehefrau, Olly als die bessere Mutter. Sollte irgendeine Rivalität zwischen den Frauen existiert haben, so blieb sie uns Kindern verborgen; vorherrschend waren ihre Vertrautheit und Solidarität, die auch andauerten, als sie - beide ihrer Männer wegen - in unterschiedliche Orte zogen: Gerda nach Saarbrücken, Rostock, Kiel und Memel, Olly nach Wustrow.
Wustrow war nicht irgendein Dorf. Es hatte Bedeutung gewonnen durch die 1846 errichtete »Großherzogliche Navigationsschule zu Wustrow«, die erste staatliche Seefahrtschule in Mecklenburg. Die Seeleute brachten große Muscheln von fernen
Küsten mit, Porzellan aus Japan und China, Keramik aus England, und ihre Frauen schmückten die guten Stuben mit Bildern der Schiffe, auf denen ihre Männer als Kapitäne fuhren. Schüler und Lehrer am Ort wechselten, nicht wenige aber heirateten Frauen vom Fischland und blieben. So verwob sich Bodenständigkeit mit einem Hauch von Weltläufigkeit.
Kapitäne gab es seit alter Zeit
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