Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Kochers sowie von Röcken und Blusen, und sie ließ in Paketen und Kisten per Post und Bahn auch Eingewecktes nachkommen: Marmelade, Äpfel, Saft, Rübchen, Weintrauben (von der Hauswand unseres Großvaters Warremann in Brinckmansdorf), sogar Tomaten, die - so führte sie Klage in einem Brief - ihren Bestimmungsort leider zum Teil eingedrückt erreichten.
Ostern 1943 sind meine Mutter, meine Schwester Marianne und ich zu einem kurzen Besuch bei meinem Vater in Adlershorst bei Gdingen (damals Gotenhafen) im besetzten Polen. Im Herbst verbrachten wir sogar einige Monate in seiner kleinen Dienstwohnung. Der kleine Junge fühlte sich nicht wohl.Was taten wir hier? Es war wohl die Fremdheit, die ihn verunsicherte.
Nur einmal, am 10. Oktober 1943, berichtete Mutter ihrer Schwester von einem »ganz hübschen Tagsangriff« auf Gotenhafen, bei dem »das Krankenhaus vernichtet worden ist und ein Lazarettschiff. Außerdem hat ein Splittergraben mit vielen Kindern aus dem Krankenhaus einen Volltreffer bekommen«. Adlershorst blieb zwar verschont, »die Aufregung war allerdings auch hier groß, als wir die Unzahl von Flugzeugen sahen, es waren wohl mehr als zweihundert. So was habe ich noch nicht gesehen.« Kein Wort der Angst, kein Wort des Mitleids mit den Verwundeten und den Angehörigen der Toten, kein Wort der Besorgnis über die Kriegsereignisse. Dabei befand sich die Wehrmacht nach der schweren Niederlage bei Stalingrad und der misslungenen Offensive bei Kursk im Osten bereits in der Defensive. Die Front verschob sich seit Frühsommer 1943 unaufhaltsam nach Westen.
Mein Vater dürfte darüber gut informiert gewesen sein. Außerdem bangte Tante Gerda um ihren Mann, der als Marinepfarrer nach Memel eingezogen worden war. Mit dem Wissen von heute erscheint befremdlich, wie weit meine Mutter in Sorge um das tägliche Wohlergehen der Familie das große Geschehen ausblendete und verdrängte, wie sie abwertende Worte fand über »die Polacken«, an die man sich erst gewöhnen müsse, und darüber, dass sie »so was von Stehlen wie hier« noch nicht erlebt habe, die bedrohliche Kriegslage hingegen hartnäckig ignorierte. Vermutlich suchte sie so ihren Glauben an den Endsieg der Deutschen aufrechtzuerhalten.
An den Fliegerangriff kann ich mich nicht erinnern, aber in meinem Gedächtnis hat sich ein Schatten über den ganzen Aufenthalt gelegt. Auch Adlershorst lag an der Ostsee, auch dort gab es einen breiten Strand und eine Steilküste wie in Wustrow. Doch ich empfand den Ort als fremd, unsicher, kalt. In der kleinen Dienstwohnung fühlte ich mich beengt, die kahlen, mehrstöckigen Häuser ängstigten mich, ich vermisste die großen Lindenbäume in Wustrows Straßen. Alles war zu unübersichtlich. Vor allem die Parade, zu der mich meine Mutter in Sonntagskleidung führte, um mich Stolz auf meinen Vater zu lehren. Die Marine marschierte, Mutter hob mich hoch, damit ich besser sehen konnte. Immer wieder wies sie vom Straßenrand mit dem Zeigefinger in den Zug: »Siehst du ihn nicht? Da ist er doch!« Der kleine Junge sah in die Reihen, sah uniformierte Männer im Gleichschritt paradieren: ein schönes, ein beeindruckendes, ein überwältigendes Bild. Aber ein Marinesoldat sah aus wie der andere. Wie hätte der Dreijährige in dem unüberschaubaren, schier endlosen Zug, der forschen Schritts unter lautem Trommelwirbel vorbeizog, ein einzelnes Gesicht fixieren sollen? Der Vater existierte nicht in der Masse.
Zurück in Wustrow hörte ich im Reichsrundfunk häufig die Sendung »Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt«, nicht gerade eine Kindersendung. Eine sehr markante Fanfarenmusik leitete die Meldungen über die Siege ein - und der kleine Junge wollte siegen mit seinen zwei Panzern aus Holz. Einer war
grün-bräunlich mit Tarnfarben bemalt, der andere anthrazitgrau und glich den englischen Tanks aus dem Ersten Weltkrieg. Mit großer Ausdauer führte er sie um die Sessel in dem kleinen Wohnzimmer herum. Er sei fortwährend unterwegs gewesen, erzählte die Mutter später, um in El Alamein und sonst wo auf der Welt seinen Vater aus der Hand übermächtiger Feinde zu befreien. Offenbar glaubte der kleine Junge seinen Vater in Gdingen in Gefahr.
Weihnachten 1944 bestand ich meinen ersten öffentlichen Auftritt auf einer wahrscheinlich von der nationalsozialistischen Frauenschaft veranstalteten Weihnachtsfeier. Ich vermochte ein ganzes Weihnachtsgedicht aufzusagen, ohne mich zu verhaspeln und ohne zu stocken: »Von drauß, vom
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