Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
mit elf Jahren in eine Kinderpsychiatrische Klinik gekommen, wo sie zeitweilig an das Bett gefesselt worden war, danach für ein Jahr in ein Kinderheim, wo man sie gedemütigt und geschlagen und eine Woche lang in eine Dunkelzelle gesteckt hatte. Sie wollte irgendwie in den Westen, und zwar schnell, und hatte schon ihren Onkel gebeten, sie im Kofferraum zu schmuggeln.
Ein Foto aus Gunnar Christophers Stasi-Akte. Die Parole drückte das Lebensgefühl einer ganzen DDR-Generation aus. Keiner sollte dergleichen laut äußern, schon gar nicht auf Wände malen. Wer es dennoch tat, kam ins Zuchthaus.
Gunnar hatte nach seiner Ausbildung als Maschinen-und Anlagemonteur eine Stelle an einer VEB Minol-Tankstelle angenommen. Er wollte, wie er sagte, nicht mehr »produktiv« für den Staat tätig sein. Er hatte auch jeden Dienst im Rahmen der Nationalen
Volksarmee abgelehnt, war also ein »Totalverweigerer« und musste mit einer Haftstrafe von achtzehn bis vierundzwanzig Monaten rechnen, falls ihm nicht vorher die Ausreise gestattet würde.
Als »Übersiedlungssuchende« lebte das Paar in einem permanenten Provisorium. Alles, was die Ausreise beschleunigen würde, konnte ihnen nur recht sein.
Die Malaktion entstand spontan. Dörte und Ute hatten eines Nachmittags ganz einfach ihre Fantasie schweifen lassen, welche antisozialistische Aktion möglichst großes Aufsehen erregen und, so die Hoffnung, Menschen wach rütteln würde. Flugblätter von den Dächern in der Innenstadt heruntersegeln zu lassen, erschien ihnen zwar spektakulär, aber Flugblätter herzustellen, bei denen der Text aus Linoleum herausgeschnitten und die anschließend Blatt für Blatt mit schwarzer Farbe »gedruckt« werden mussten, erwies sich als sehr mühselig. So wurde das Projekt Linoleum-Schnitt für das unkompliziertere und mindestens ebenso spektakuläre Projekt Malaktion aufgegeben. Spät abends machten sich Dörte, Ute und Gunnar mit Farbe und Pinsel auf den Weg - mit Bus und Straßenbahn, den Eimer in einem Beutel in der Hand.
Die Straßen in der DDR waren schlecht beleuchtet. Im Dämmerlicht der Laternen fühlten sich die Drei geschützt. Gunnar ging ein Stück vor, Dörte blieb ein Stück zurück, so sondierten sie die Lage. Ute malte währenddessen Parolen in signalroter Farbe an Stellen, für die sie sich spontan entschieden. Nach etwa anderthalb Stunden in der menschenleeren Innenstadt war das Werk ohne jeden Zwischenfall vollbracht. Sie entsorgten Eimer und Pinsel, setzten sich wieder in die Straßenbahn und kehrten heim. Als die Großfahndung anlief, lagen sie schon in ihren Betten.
Alles schien gut gegangen zu sein. Die Drei deckten sich gegenseitig, außer mir war niemand eingeweiht. Monate gingen ins Land. Dann verliebte sich Dörte in einen jungen Mann und erzählte ihm als Ausdruck ihres besonderen Vertrauens von ihrer Heldentat. Und als Ausdruck seiner unbedingten Vertrauenswürdigkeit lieferte der neue Freund die Information an die Stasi weiter.
Als Gunnar am 11. Februar 1986 morgens um 7 Uhr in der VEB-Minol-Tankstelle zur Arbeit erschien, warteten bereits zwei unbekannte Herren auf ihn. Sie drängten ihn in ein Auto und transportierten ihn in das Stasi-Untersuchungsgefängnis in der Rostocker August-Bebel-Straße. Alle drei wurden getrennt vernommen, vom Morgen bis zum Abend. Gunnar leugnete, bis ihm ein Zettel mit der Handschrift seiner Frau gereicht wurde: Sie hatte gestanden. Ute leugnete, bis ihr ein handschriftlicher Zettel von ihrem Mann gezeigt wurde: Er hatte gestanden. Die beiden kamen in Untersuchungshaft, während sich Dörte, die noch nicht volljährig war, unter bestimmten Auflagen bis zum Prozess frei bewegen durfte.
Da alle drei zu meiner Jungen Gemeinde gehörten, vermutete die Stasi, ich sei »unmittelbar oder mittelbar als Inspirator der feindlich-negativen Aktivitäten und Handlungen« zu betrachten, konnte dies aber nicht beweisen. Über den Referenten für Kirchenfragen bei dem Rat der Stadt (IMS Scheler) versuchte sie, auf quasi offiziellem Weg entsprechende Informationen aus mir herauszulocken. Auch Gespräche mit den Inhaftierten sollten genutzt werden, gerichtsverwertbares Belastungsmaterial gegen mich zu sammeln. Ich ahnte nicht, dass ausgerechnet jemand, dem ich vertraute und den ich daher gebeten hatte, die Verteidigung von Ute zu übernehmen, gegen mich arbeiten würde.
Rechtsanwalt Wolfgang Schnur war damals schon bekannt als Verteidiger von politisch Verfolgten. In der ganzen Republik trat er
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