Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
studieren können.« So empfahl ich ihnen in der Regel, den normalen Wehrdienst abzuleisten, allerdings nur den achtzehn Monate dauernden Grundwehrdienst und nicht - wofür in den Oberschulen massiv geworben wurde - den dreijährigen Dienst als Unteroffizier auf Zeit, der gemeinhin als Vorbedingung zur Erlangung eines Studienplatzes galt.
Ich selber war und bin nicht pazifistisch. Ich habe damals gesagt: Ich will unter diesen Umständen und in dieser Zeit keine Waffe in die Hand nehmen, jedenfalls nicht in der Nationalen Volksarmee, der Armee einer Diktatur. Im Westen stand ich einerseits denen nahe, die dachten: In Europa ist der Dienst an der Waffe unsinnig, angesichts der atomaren Bedrohung nicht zeitgemäß, und er löst keine Probleme - eine militärische Konfrontation hätte in einem Inferno enden können. Ich selber hatte daher zeitweilig die Parole: Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin, an meinem Pkw angebracht - die Stasi hat es notiert. Aber anders als diese Freunde im Westen dachte ich, es kann Zeiten geben, in denen man den Frieden, die Freiheit, das eigene Leben oder das Leben anderer Menschen mit der Waffe in der Hand verteidigen muss. So waren mir in den 1990er Jahren jene nahe, die dem Morden auf dem Balkan nicht tatenlos zuschauen wollten und militärisch dagegenhielten.
Durch meine Arbeit mit den Jugendlichen, vor allem durch meine Tätigkeit als Stadtjugendpfarrer, geriet ich verstärkt in das Blickfeld der Staatssicherheit. Seit Frühjahr 1983 beobachtete sie mich unter dem operativen Vorgang »Larve« aufgrund einer »antisozialistisch-feindlichen Einstellung zu den sozialistischen Verhältnissen in der DDR«. Nach einem Jahr hieß es, ich versuche, »unter dem Deckmantel der kirchlichen Friedensarbeit oppositionell
eingestellte Jugendliche politisch-oppositionell zu gewinnen«, nach zwei Jahren wurde bestätigt, »Larve« sei ein »unbelehrbarer Antikommunist«.
Zu meinen Stadtjugendabenden und zu den großen Friedensgottesdiensten, an denen zwischen 1981 und 1985 bis zu siebenhundert Jugendliche teilnahmen, kamen immer mehrere, zum Teil jugendliche IM. So fand ich protokolliert, was ich damals sagte: dass die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR denen im faschistischen Deutschland ähnelten; dass staatliche Organe in der DDR den Bürgern gegenüber ebenso wenig Rechenschaft geben würden wie im NS-Regime; dass das gesamte Leben in der DDR einer Militarisierung unterliege; dass das DDR-Regime aus Angst vor den eigenen Bürgern eine totale Überwachung organisiere; dass der Staat die Menschen zu einer Doppelzüngigkeit treibe und der Einzelne zu Hause anders rede als in der Öffentlichkeit etc. etc.
»Die besondere Gefährlichkeit liegt in der zielgerichteten Breitenwirkung des ›Larve‹, die er als Stadtjugendpastor auf die kirchliche Jugend des Kirchenkreises Rostock-Stadt hat, sowie in seinem anmaßenden und frechen Auftreten.« Diese Auftritte und das Ausleihen von Büchern, die in der DDR verboten seien, wie die Romane von Walter Kempowski oder Alexander Solschenizyn, seien von strafrechtlicher Relevanz, aber »aus politischen Erwägungen ist die Inhaftierung eines Pastors in der gegenwärtigen Klassenkampfsituation bei der weiteren Entwicklung des Sozialismus nicht dienlich.« Dienstreisen in das »NSW«, das »Nichtsozialistische Westliche Ausland«, die mir nach langen Jahren des Wartens endlich gewährt worden waren, wurden wieder untersagt, Freunden und Mitgliedern aus westdeutschen Partnergemeinden die Einreise verweigert.
Natürlich wurden solche Sanktionen niemals begründet. In mir wechselte ohnmächtige Wut mit stoischer Ergebenheit. Vielleicht hätte ich mich weniger zurückgehalten, hätte ich gewusst, dass ein Dutzend IM über mich berichteten, dass mein Telefon abgehört, meine Post geöffnet, dass zeitweilig Wanzen in den
Wänden der Wohnung eingebaut wurden und heimlich Wohnungsdurchsuchungen stattfanden.
Als ich Ende 1985 das Amt als Stadtjugendpfarrer abgab, weil mir die Arbeit neben Gemeinde und Kirchentagsvorbereitungen zu viel wurde, feierte die Stasi dies als einen Erfolg des Drucks, den sie über den Referenten für Kirchenfragen beim Rat der Stadt (IM Scheler) auf mich und meine Vorgesetzten ausgeübt habe. Später lernte ich, dass die Stasi Entwicklungen, die sich ohne ihr eigenes Zutun ergaben, gern voller Stolz der eigenen Einflussnahme zuschrieb. Allerdings scheint sie damals selbst Zweifel an der positiven Einschätzung meines Wechsels
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