Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Gottesdienst vor über achthundert Jugendlichen in der Heilig-Geist-Kirche. »Ein Jugendlicher zündete eine Kerze an für A.K., der inhaftiert wurde, weil er den Wehrdienst ablehnte (und zu 8 Monaten Haft verurteilt worden war). Ein Mann von ca. 25 Jahren sagte: Ich zünde eine Kerze an für die, die den Mut haben, den Dienst mit der Waffe zu verweigern.«
Ich weiß nicht, wer Susie Berger war, ich habe sie erst in meiner Akte gefunden. Sie war sechzehn, als sie angeworben wurde, sie war neunzehn, als sie jede weitere Zusammenarbeit ablehnte. Als ich ihre Berichte las, konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, als habe sie bei der Stasi um Verständnis und Sympathie für mich geworben, den sie doch observieren sollte. Gauck »war traurig darüber, dass nach dem Abtrennen ›Schwerter zu Pflugscharen‹ so viele Jugendliche klein beigegeben haben und die Idee nicht mehr im Herzen tragen«, schrieb IM Susie Berger über den Jugendgottesdienst am 22. Januar 1983 mit etwa zweihundert Jugendlichen in der Johanniskirche. Gauck »forderte auf, die Idee ›Schwerter zu Pflugscharen‹ nicht als Emblem, sondern innerlich von Mensch zu Mensch weiterzutragen. Die Politik des Friedensschaffens sollten wir nicht anderen überlassen, sondern uns selbst mit daran beteiligen.« Wahrscheinlich sprach sie auch über sich selbst. So schizophren konnten IM handeln.
Die SED folgte der Maxime: Der Sozialismus ist per se das Friedenslager; alles, was dieses Lager stärkt, sichert den Frieden. Ihre Losung lautete: Frieden schaffen - gegen NATO-Waffen. Wenn der Warschauer Pakt seine Raketen modernisierte, geschah das für den »bewaffneten Frieden«, der mit einer Strategie der Vorwärtsverteidigung errungen werden sollte: den »Aggressor« galt es auf seinem eigenen Territorium zu schlagen. Für die Helden dieses Gefechts war schon ein Orden gestiftet; für die Bevölkerung des eroberten Westens existierte bereits das Militärgeld; zudem waren bereits jene West-Berliner Politiker und Bürger namentlich erfasst,
die in Isolierungslager eingewiesen werden sollten. Wenn sich die NATO hingegen mit der Aufstellung von Pershing-Raketen in Westeuropa zu wehren versuchte, wurde dies als »imperialistische« und »militaristische« Aggressionspolitik verurteilt. Die Friedensbewegung in der Bundesrepublik war gut und wurde massiv von der DDR-Führung unterstützt; die nicht autorisierte Friedensbewegung im eigenen Land war böse und wurde von ihr bekämpft. Die Doppelmoral war offensichtlich.
Die DDR hatte die Wehrpflicht Anfang 1962 eingeführt. Vor dem Mauerbau hatte sie dies nicht wagen können, da sich ein großer Teil der Wehrpflichtigen durch Flucht in den Westen entzogen hätte. Als einziges sozialistisches Land ließ sie auf Druck der Evangelischen Kirche zwei Jahre später allerdings einen Ersatzdienst für jene zu, die den Dienst mit der Waffe ablehnten. Sie mussten als sogenannte Bausoldaten ebenfalls in Uniform dienen und wurden ebenfalls kaserniert. Sie brauchten zwar keinen Eid abzulegen, der sie zum Einsatz ihres Lebens verpflichtete, doch mit dem Gelöbnis, ihren militärischen Vorgesetzten gegenüber unbedingten Gehorsam zu üben, blieben sie an das militärische Regime der Nationalen Volksarmee gebunden und wurden zunächst auch beim Bau von militärischen Anlagen eingesetzt. Erst nach Protesten wurde ihr Einsatzbereich auf »zivilere« Bereiche ausgedehnt; sie arbeiteten danach im Straßenbau, als Gärtner, als Krankenpfleger in Militärkrankenhäusern oder als Küchenhelfer, in den letzten Jahren der DDR auch als Hilfskräfte in Großbetrieben. Thomas Abraham beispielsweise bildete mit vier weiteren Bausoldaten eine Reinigungskolonne in dem VEB Chemische Werke Buna, einem der größten Industriekombinate der DDR, das die berühmte »Plaste und Elaste aus Schkopau« herstellte. Niemand kontrollierte sie, niemand überwachte sie; für manche Bausoldaten war der Dienst die Hölle, für Thomas war die Zeit einfach skurril. Er hatte Glück.
Auf keinerlei Nachsicht oder Glück konnten hingegen die Totalverweigerer hoffen. Wer, wie die Zeugen Jehovas, jede Form des Wehrdienstes ablehnte, wurde bis 1985 zu einer Gefängnisstrafe
zwischen 18 und 22 Monaten verurteilt, er blieb am Rande der Gesellschaft.
Ich habe in Gesprächen mit den Jugendlichen über den Wehrdienst daher immer zurückhaltend reagiert und zu bedenken gegeben: »Wenn du als Bausoldat gehst, legst du ein politisches Bekenntnis ab, aber du wirst wohl nicht
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