Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
nur rechnen müssen, er hatte es sogar ein wenig herbeigesehnt.
Am 11. Dezember 1986 drangen sie morgens um 6 Uhr in seine Wohnung ein. »Ch. ignorierte das Ausweisen und die Aufforderung, zur Dienststelle mitzukommen«, hielt das Protokoll der Kriminalpolizei fest. »Er schrie um Hilfe und rief nach der Polizei. Ch. wurde nochmals aufgefordert, sich ruhig zu verhalten und den Forderungen der Kriminalpolizei Folge zu leisten. Diesem kam er nicht nach, worauf ein FSTW [Funkstreifenwagen] angefordert wurde … Ch. verhielt sich provozierend, indem er auf Fragen der Genossen der Kriminalpolizei provozierend antwortete. Er zog sich sehr langsam an, rauchte in Ruhe eine Zigarette und trank auch Kaffee.«
Die »Schmierereien« in Evershagen konnten Gunnar nicht nachgewiesen werden. Aber die Stasi wusste sich zu helfen: »Bei der Durchsuchung der Wohnräume wurden für Besucher sichtbar angebrachte Losungen herabwürdigenden Inhalts wie
- DDR? Nein danke. Hab’ schon viel zuviel davon.
- Vorsicht! Hinter der Tür fängt die DDR wieder an.
- Willkommen in Gunnars deutscher Republik (GDR) sichergestellt.«
Die Anklage lautete auf Beihilfe zur öffentlichen Herabwürdigung.
Als Verteidiger wählte Gunnar Rechtsanwalt Wolfgang Schnur. Dieser sei ihm gegenüber immer sehr korrekt gewesen, berichtete Gunnar später, und nicht nur das. Am Morgen des Heiligabend 1986 habe sein Verteidiger ihn sogar im Untersuchungsgefängnis besucht und ihm eine Tafel Schokolade geschenkt. Außerdem habe er später in seiner Stasi-Akte keinen einzigen IM-Bericht von Schnur gefunden.
Schnur war eine schillernde Figur, ein Mensch mit zwei Gesichtern. 1965 als IM geworben und als »außerordentlich wertvolle Quelle« gelobt, geriet er Anfang der achtziger Jahre selbst ins Visier der Stasi, da er eigenständige, der Stasi verheimlichte Kontakte zu einem Mitarbeiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin unterhielt. Eine Zeitlang führte ihn die Staatssicherheit daraufhin auf doppelte Weise: als Spitzel und als
Bespitzelter, einmal als IM Torsten, das andere Mal als Operativer (Opfer-)Vorgang »Heuchler«.
»Torsten« übte Selbstkritik, verwies auf private Probleme und gelobte Besserung: »Ich will der Treue unserer Sache dienen«, und er suchte Schutz: »Bitte helfen Sie mir aus meiner inneren Not.« 1986 führte die Stasi noch einmal eine Aussprache mit ihm herbei, da es wieder Anzeichen von Unehrlichkeit gab. In etlichen Fällen, so der Vorwurf, hätte IM Torsten zu wenig oder gar nicht über Kontakte zu Bundesbürgern und über Mandanten unter den Ausreisern berichtet.Vielleicht hatte Gunnar das Glück, zu denen zu gehören, die nicht von Schnur verraten wurden.
Gunnars zweiter Prozess fand aufgrund der angeblichen Schwere des Delikts vor dem Ersten Strafsenat des Bezirksgerichts Rostock statt. Wir wussten, dass die politischen Verfahren dort unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt wurden, hatten uns aber nicht von den Pförtnern zurückweisen lassen und uns am Morgen des 6. April 1987 im Saal des Bezirksgerichts demonstrativ in die erste Reihe gesetzt: Gunnars Mutter, seine Schwiegermutter und ich.
Das Gericht zog ein, die Richterin schloss als Erstes die Öffentlichkeit aus, aber unser Ziel war erreicht: Gunnar hatte uns gesehen. Er wusste nun, dass wir ihn nicht vergessen hatten. »Beim Verlassen (des Saales)«, so meldete Verteidiger Wolfgang Schnur in seiner Doppelexistenz als IM Torsten kurz darauf der Stasi, »wurde durch Pastor Gauck die Tür heftig geschlagen.«
Gunnar erhielt 4½ Jahre und wurde sofort in die Strafvollzugsanstalt in Cottbus überführt.
Im Stasi-Gefängnis in Rostock war ihm der Aufenthalt noch relativ erträglich erschienen. Er hatte die letzte Zeit in einer Sechs-Mann-Zelle verbracht, in der er auf Mitglieder einer Gruppe gestoßen war, die bei einem Fluchtversuch erwischt worden waren. Nach Instruktion durch ein Gruppenmitglied, das seinen Wehrdienst an der innerdeutschen Grenze verrichtet hatte und mit den Gegebenheiten dort bis ins kleinste Detail vertraut war, hatten sie eine Leiter gebaut. Als sie ihre Fluchtvorbereitungen
endlich abgeschlossen hatten, war die Mauer nachgerüstet worden: Sie war gewachsen. So hatten sie auf dem Grenzstreifen gestanden und waren nicht hinübergekommen. Nun saßen sie. Nicht verzweifelt, nicht depressiv, sondern eher in der festen Gewissheit, dass der Tag des Freikaufs nicht fernliegen würde. Gunnar hatte von ihrem Optimismus profitiert. Sie
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