Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
von der Jugend-zur Kirchentagsarbeit gehabt zu haben, denn sie musste einräumen: »Das kirchliche Amt als Vorsitzender des Kirchentagsausschusses der Landeskirche (das ich seit 1983 bekleidete) hat zumindest eine gleichrangige Bedeutung.«
Zum Beispiel
S pät nachts entdeckte die Streife der Schutzpolizei eine Parole in der Rostocker Innenstadt. »Wir sind mündig, doch wir haben nichts zu sagen«, prangte in signalroten Lettern 1,60 Meter hoch am Kröpeliner Tor, an der Westseite der Altstadt, am Ende der Einkaufsstraße. Wenige Minuten später stieß sie gegenüber dem Zooladen auf die nächste Parole: »Das Leben hat doch keinen Sinn, wenn ich Kanonenfutter bin.« Auf dem Schaufenster des Kaufhauses »Flax und Krümel« hieß es: »Frieden schaffen ohne Waffen, Biermann lebt«, auf der Presspappe eines geschlossenen Schaufensters: »DDR eingesperrt«; darunter deuteten mehrere senkrechte und zwei waagerechte Striche ein Gitter an.
Ich wusste sehr schnell, wer die Parolen gemalt hatte. Gunnar und Ute Christopher sowie Dörte Neubauer berichteten davon nicht ohne Stolz. Alle drei gehörten zu meiner Jungen Gemeinde. Dörte kannte ich bereits aus der Christenlehre und dem Konfirmandenunterricht, Ute und Gunnar waren erst als Jugendliche und aus eigenem Interesse zur Jungen Gemeinde gestoßen, sie stammten nicht aus christlichen Elternhäusern.
»Die öffentliche Herabwürdigung gemäß § 220 StGB«, schrieb die Kreisdienststelle der Rostocker Staatssicherheit wenige Stunden nach Entdeckung der Tat, habe in der Nacht des 3. September 1985 wahrscheinlich zwischen 0.30 und 1.30 Uhr stattgefunden. Angehörige der SED-Kreisleitung hatten drei Jugendliche gegen 1.45 Uhr am Leibnizplatz gesehen, aber keinen Argwohn gehegt. Dass jemand antisozialistische Parolen mitten in der Stadt malen könnte, lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft.
Der Apparat begann auf Hochtouren zu laufen. Die Kriminalpolizei fotografierte alle Losungen, sicherte Farbpartikel zur Bestimmung ihrer stofflichen Zusammensetzung, suchte und fand Pinsel und Farbreste in einer Mülltonne in der Wallensteinstraße
und nahm eine »Geruchsprobe« des Pinsels. Mithilfe eines Fährtenhundes ermittelte sie zudem die Tour, die die »Täter« vom Kröpeliner Tor zu elf weiteren Stellen geführt hatte.
Der Verdacht fiel sofort auf Jugendliche, die den Wehrdienst verweigert oder einen Ausreiseantrag gestellt hatten, auf politisch Aktive, die gerade zwei Tage zuvor, am 1. September 1985, eine Schweigestunde am Mahnmal der Opfer des Faschismus im Rosengarten veranstaltet hatten. Insgesamt führte die Kriminalpolizei neunzig Befragungen durch und verlangte von allen neunzig Verhörten Schriftproben. Sechzehn Jugendliche aus dem engeren Kreis der Verdächtigen wurden zudem einer demütigenden Prozedur unterzogen: Sie mussten sich weiche, gelbe Tücher für einige Minuten in die Unterhosen stecken, anschließend wurden diese Tücher in Gläsern »eingeweckt«. Doch der Abgleich dieser Geruchskonserven mit der des Pinsels führte ebenso wenig zur Ermittlung der Täter wie der Vergleich der Schriftproben.
Als mir die Drei von ihrer Malaktion erzählten, musste ich an mich selbst denken, an den Sechzehnjährigen, der mit seinem Cousin in Güstrow 1956 nach einer Möglichkeit gesucht hatte, seiner Empörung über die Niederschlagung des Ungarn-Aufstands Ausdruck zu verleihen. Wir hatten die Hilferufe der Aufständischen im Westradio gehört und konnten nicht fassen, dass der freie Westen die Niederschlagung der Revolution zuließ. Wir wollten ein Flugblatt verfassen, vom Pfarrhaus meines Onkels Gerhard über die Mauer auf den Hof der John-Brinckmann-Oberschule steigen und den Zettel am Schwarzen Brett anbringen. Ich empfand tiefe Sympathie für die Drei, ihre Beweggründe waren mir vertraut, aber ich sagte im Bewusstsein meiner Verantwortung: »Wenn ihr mich vorher gefragt hättet, hätte ich euch abgeraten.« Denn würden sie entdeckt, das war mir klar, würden sie in den Knast kommen.
Im Nachhinein stellt sich natürlich die Frage, ob Gunnar und Ute das Risiko einer Inhaftierung - und sei es unbewusst - nicht sogar einkalkuliert hatten, um einen Freikauf durch den Westen zu erreichen. Ute wollte die DDR seit ihrem vierzehnten Lebens-jahr
verlassen. Sie hatte die Mutter vor Augen, die weinte und litt, weil ihr jede Besuchsreise zu Eltern und Geschwistern in den Westen verweigert wurde. Nicht einmal zur Beerdigung ihres Vaters hatte sie fahren dürfen. Ute selbst war
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