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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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inzwischen klar geworden. Seine Situation hatte sich taktisch sogar verschlechtert. Wie sollte ihn die Bundesrepublik freikaufen, wenn doch gar kein Antrag lief? Doch zurück konnte er nicht mehr, nur noch vorwärts. So hatte er eine neue Taktik entworfen: Er musste so schnell wie möglich aus dem Knast heraus, um draußen wieder einen Ausreiseantrag zu stellen.

    Also würde er sich zur inoffiziellen Mitarbeit mit der Stasi bereit erklären, damit seine Entlassung beschleunigt würde. Erst einmal draußen, würde er ihr mitteilen, dass er keineswegs vorhabe, sich als Zuträger missbrauchen zu lassen.
    Gunnars Rechnung ging tatsächlich auf. Bei der Urteilsverkündung Anfang Juni 1986 erhielt Ute als die eigentliche »Parolenschmiererin« achtzehn Monate Haft ohne Bewährung. Sie wurde in das Frauengefängnis Hoheneck in Sachsen verlegt. Gunnar hingegen kam mit dreizehn Monaten davon, seine Strafe wurde zudem auf Bewährung ausgesetzt. Am 1. Juli 1986 konnte er das Gefängnis verlassen. Die noch minderjährige Dörte blieb mit zehn Monaten auf Bewährung auf freiem Fuß.
    Noch am Tag seiner Entlassung suchte Gunnar die Aussprache mit seinem Freund Jan und zwei weiteren Mitgliedern der Jungen Gemeinde: »Ihr braucht euch nicht zu fürchten.« Als sie zufällig auf den VW-Bus stießen, den unsere Gemeinde aus dem Westen geschenkt bekommen hatte, warteten sie dort auf mich. Noch am Tag seiner Haftentlassung »dekonspirierte« sich Gunnar auch vor mir. Seine Offenheit milderte unsere Enttäuschung, keiner von uns hat ihm jemals Vorwürfe gemacht. Mir war aber klar, dass die Stasi sich rächen würde. Er würde nicht ungeschoren davonkommen. Die Stasi würde sich nicht an der Nase herumführen lassen.
    Noch im Knast waren Gunnar Ort und Zeitpunkt des ersten konspirativen Treffens mitgeteilt worden. Also fuhr er zu einem Hochhaus im Ortsteil Lichtenhagen und wartete auf einer Bank, bis ein Mann aus einer Haustür trat, sich vorsichtig nach allen Seiten umschaute und ihn dann zu sich winkte. Sie nahmen die Treppe. Der Führungsoffizier ging voran, Gunnar folgte im Abstand weniger Stufen. Sie schwiegen. Erst in der dritten Etage drehte sich der Stasi-Mitarbeiter plötzlich um und streckte Gunnar zur Begrüßung die Hand entgegen. Doch Gunnar hatte inzwischen seine Selbstsicherheit wiedergewonnen: »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber Leuten wie Ihnen gebe ich nicht die Hand. Im Übrigen habe ich nicht vor, für die Stasi zu arbeiten. Falls
erforderlich, kann ich Ihnen das auch erklären.« Der Stasi-Mitarbeiter machte auf dem Absatz kehrt, die konspirative Wohnung durfte dem Abtrünnigen auf keinen Fall bekannt werden; an Gunnars Erläuterungen war er nicht interessiert: »Bilden Sie sich nicht ein, dass Sie lange auf freiem Fuß bleiben. Wir werden uns Ihrer bald annehmen.«
    Gunnar war wieder in die Hochhauswohnung in Evershagen gezogen, die er mit Ute geteilt hatte. Er hatte sofort wieder einen Ausreiseantrag gestellt, und er arbeitete gerade so viel, dass er sich über Wasser halten konnte. Als das Tankstellen-Kollektiv vom VEB Minol ihn ins Öllager abschieben wollte, sagte Gunnar: »Im Öllager arbeite ich nicht.« Er wechselte zur Großwäscherei VEB Fortschritt, fuhr saubere Wäsche zu den Hotels und nahm die Dreckwäsche mit zurück. Als ihm unterstellt wurde, bei einem Lkw einen Getriebeschaden verursacht zu haben, sagte Gunnar: »Für eine Zusammenarbeit gibt es kein Vertrauen mehr.« Als seine anschließende Bewerbung als Eilzusteller bei der Post abgelehnt wurde und auch die als Verkäufer in einer Kunstgalerie, beschloss er, in der DDR überhaupt nicht mehr zu arbeiten, schon gar nicht im produktiven Sektor, denn - so führte er später in der Vernehmung durch die Stasi aus - »ich möchte nicht, dass von meinen Steuergeldern solche Organe wie die Staatssicherheit oder die Kriminalpolizei und die NVA finanziert werden, weil diese Organe die Menschen in der DDR unterdrücken. Außerdem möchte ich vermeiden, dass durch meine Arbeit Mittel erwirtschaftet werden, die für den Kauf von Waffen zur Anwendung kommen, zumal diese Waffen wiederum gegen die Menschen in diesem Land gerichtet werden.« Er lebte von der Unterstützung, die er von Utes Mutter und einigen Freunden erhielt. Er war bescheiden, vom Leben in der DDR erwartete er nichts mehr.
    Als erneut Parolen in Evershagen entdeckt wurden, nahm die Stasi dies zum willkommenen Anlass, um Gunnar wieder verhaften zu lassen. Es war ihm recht. Er hatte damit nicht

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