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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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Es war ein Wahnsinnsanblick
und ein ergreifendes Gefühl. Das Volk stand an der Zwingburg derer, vor denen es sich sonst immer gefürchtet hatte, und sagte laut und wütend seine Meinung!!
    Und die Gesichter der Menschen. Alle schauten sich an: Ist es wirklich wahr? Gehe ich in meiner Heimatstadt als Demonstrant auf die Straße, ohne zu fragen? Tausende sagten: »Dass ich das noch erlebe!« Ich sagte es wie sie immer wieder. Mensch, Christian und Ihr alle - Ihr konntet nicht dabei sein! Aber ohne Eure Schritte hätten die DDR-Bürger wohl noch länger geschlafen. Ich könnte noch stundenlang weitererzählen, aber kommt lieber und seht: Es sind historische Tage.
    Schön: Die Presse schwenkt auf unsere Seite über. Das Neue Forum taucht plötzlich in der Presse auf. Ich kann ein Interview geben, knallharte Berichte zeigen, dass die Journalisten was wollen. Überall brodelt es. Wie wird es weitergehen? Wird die SED lernen, die Macht zu teilen? Ich denke auch an meine Arbeit für den Kirchentag’88. Wie haben wir da für den Dialog gearbeitet! Kein einziger Politiker wollte sich stellen. Ein paar Professoren waren das Dialog-Feigenblatt. Nun reden sie jeden Tag von Dialog, als hätten sie ihn erfunden. Aber das Volk will eigentlich etwas anderes. Man erwartet, dass sie gehen und besseren Leuten Platz machen.
    Vielleicht schicke ich auch noch eine Kopie von der einen oder anderen Predigt. Meine Kollegen haben mir sozusagen ein Mandat für diese Arbeit der politischen Predigt erteilt. Ich muss einfach mit allem, was ich bin und kann, das sagen, wofür ich mein ganzes Leben in diesem Land gearbeitet, gekämpft und auch gelitten habe. Und es ist gut und richtig so!
    Bis zum Herbst 1989 war ich ein Pastor gewesen, der im kirchlichen Dienst aufging, dabei seinen Jugendlichen, seinen Gesprächskreisen und seiner Gemeinde im Gottesdienst die Wahrheit nicht schuldig blieb - das war in Rostock bekannt -, aber ich gehörte keiner außerkirchlichen Opposition an. Im Herbst 1989 wuchs ich Schritt für Schritt in eine politische Rolle hinein.
Der Sturm hatte mich mitgenommen; nie waren wir aktiver als in diesen Wochen. Binnen kurzem nannte mich eine Rostocker Zeitung »Revolutionspastor«. Mein Rollenwechsel blieb auch Rechtsanwalt Schnur nicht verborgen, der der Stasi bis zum Schluss die Treue hielt und - nun als IM Dr. R. Schirmer - nach dem Fürbittgottesdienst am 26. Oktober meldete: »Klar und eindeutig hat Gauck eine politische Rede gehalten und nicht geistlich einen Gottesdienst abgehalten … Speziell zu Pastor Gauck muss man feststellen, dass er mit seiner Rolle, politisch etwas vortragen zu können, sich bestätigt fühlt, jetzt einen Weg der unmittelbaren Einmischung in die Staatsangelegenheiten zu gehen.«
    Rasend schnell breitete sich aus, was in Sachsen auf die Formel gebracht worden war »Wir sind das Volk«. Ich hörte in diesem Satz mit, was deren Erfinder 1989 wahrscheinlich noch gar nicht im Kopf hatten. Mit der Ermächtigung der Vielen ging die Ermächtigung des Einzelnen einher. Wer einst nur als Staatsinsasse mit staatlich geregelter Eingangs-und Ausgangsordnung aus dem Biotop gelebt hatte, erkannte nun seine Rechte, erklärte sich für zuständig. Die Losung war ein ernster Appell an den, der sie aussprach: Wenn du das Volk bist, also der Souverän, dann trägst du auch Verantwortung. »Wir sind das Volk« sollte in jedem Klassenzimmer hängen. Gibt es einen schöneren Satz aus dem langen Kampf für Menschen-und Bürgerrechte in diesem Land? Gehörte er nicht ins kollektive Gedächtnis der ganzen Nation?
    Damals wehte mit dem Satz aus Sachsen eine doppelten Botschaft über das Land: Den Einen bestritt sie das Recht zu herrschen, weil sie ohne Recht herrschten, die Anderen forderte sie auf, den nun offenen Raum zu betreten, die Macht, die auf der Straße lag, zu übernehmen, an das Recht zu binden und als frei gewählte Volksvertretung auszuüben.
    Auch Tausende von Parteimitgliedern der SED spürten die Kraft, die von der Losung ausging. Die neue Mündigkeit wirkte ansteckend. Viele einfache Parteimitglieder protestierten durch Austritt, sie wollten nicht länger Teil einer herrschenden Klasse sein, die als Gegner oder als Feind des Volkes agierte, andere waren
ermutigt: Bald würden die reaktionärsten Bastionen der ideologischen Festung gestürmt, alte Kader gestürzt und sogar aus der Partei ausgeschlossen sein!
    Sicher wäre all dies auch ohne eine starke Losung geschehen, aber mit ihr ging es schneller und

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