Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
besser. Am Ende wurde aus unserer Protestbewegung eine Revolution. Das Oberste, was für alle Zeiten hatte oben sein wollen, wurde nach unten gekehrt. Ganz ohne Gewalt. Dies erschien manchen nach den Erfahrungen etwa mit der Französischen Revolution 1789 oder der Revolution in Russland 1917 ein Widerspruch in sich. Revolution war bis dahin immer mit Gewalt verbunden gewesen. Viele sprechen daher lieber von einem Zusammenbruch, einem Kollaps, einer Implosion, einer Wende, zumindest von einer »friedlichen«, einer »samtenen« oder einer »verhandelten« Revolution im Osteuropa des Jahres 1989. Timothy Garton Ash sprach von einer »Refolution«, was eine Mischung aus Reform und Revolution bezeichnen sollte. All diese Einschränkungen ändern für mich nichts an der grundlegenden, eine Revolution kennzeichnenden Tatsache, dass eine staatliche Ordnung durch das Volk gestürzt und durch ein neues System ersetzt worden ist - auch wenn kein Blut floss und die Aufbegehrenden Transparente und Kerzen statt Waffen in den Händen hielten.
Damals, im Herbst 1989, versuchten Partei und Staat noch, die Mobilisierung der Bevölkerung umzuleiten, die Menschen von der Straße weg-und in institutionalisierte Bahnen zurückzulenken. Dialogveranstaltungen sollten die Unzufriedenheit auffangen und die Meinungsführerschaft der Partei wieder herstellen. Der stellvertretende Rostocker Bürgermeister erschien sogar in unserem Fürbittgottesdienst am 19. Oktober, um für eine derartige Veranstaltung am folgenden Tag in der Ostseehalle zu werben. Hätte die SED ein Jahr zuvor, etwa auf dem Kirchentag 1988, ähnlich wie die ungarischen Reformsozialisten Miklós Németh und Staatsminister Imre Pozsgay auf die privilegierte Rolle der Partei verzichtet und einen Parteienpluralismus akzeptiert, wir Bürgerbewegte wären auf das Dialogangebot eingegangen. Jetzt
sahen wir in den Herrschenden keinen Dialogpartner mehr, sondern nutzten die öffentlichen Diskussionen in der Sport-und Kongresshalle, um sie zu delegitimieren.
Bei der letzten großen Veranstaltung über »Parteienpluralismus und Bürgermitbestimmung« am 5. November saß der Erste Sekretär der Bezirksleitung, Ernst Timm, selbst auf dem Podium, eben jener, der in der Volkskammer die Resolution zur Unterstützung der chinesischen Genossen eingebracht hatte. Timms Wortwechsel mit Reinhart Haase, einem Mitglied des Neuen Forums, der schon seit Jahr und Tag das offene Wort pflegte und in der Rostocker Kirchenszene durch unorthodoxes Auftreten auffiel, war bald jedermann an der Küste bekannt, denn er wurde mehrfach im Radio wiederholt.
Haase fragte Timm zunächst nach seiner Haltung zur Diktatur des Proletariats.
Timm: »Ja, wie soll man dazu stehen … Bis jetzt … Moment … Ich stehe eigentlich so dazu, wie es schon von Lenin formuliert worden ist. (Zwischenrufe: Wie denn?) Ja, da müsste man jetzt nachlesen. (Pfiffe, Rufe) Die Zeit haben wir jetzt nicht. Moment. In wenigen Sätzen kann man das nicht erklären, aber ich will Folgendes sagen: Diktatur des Proletariats als Synonym für die führende Rolle der Arbeiterklasse im breitesten Bündnis mit allen Kräften des Volkes.«
Haase: »Dankeschön. Zweite Frage: Welche politische Strukturveränderung planen Sie, und gehört die Auflösung der Nationalen Front dazu?«
Timm: »Bis jetzt nicht.«
Haase: »Bis jetzt nicht. Dankeschön. Ist die sozialistische Demokratie des Volkes ein Fortschritt gegenüber der Diktatur des Volkes, gegenüber der Diktatur des Proletariats?«
Timm: »Ich würde sagen, beides kann man nicht gegeneinander stellen.«
Haase: »Der Aderlass der Menschen in unserem Land schmerzt mich und Sie. Was können wir dagegen tun? Ich fordere, dass die
gesamte Regierung zurücktritt mit allen Ministern. Was empfehlen Sie?«
Timm: »Ich verstehe den Ernst der Dinge, der mich genauso traurig macht. Ich fordere eine außerordentliche Volkskammerversammlung, auf der sich zu diesen Fragen die entsprechenden Vertreter in der Volkskammer äußern und Position beziehen. (Zwischenruf: Wie lange noch?) …«
Haase: »Das Letzte: Ich bin kein gewählter Sprecher des Neuen Forums, aber vertretend würde ich mich mit ins Präsidium setzen. Ich tue eine Tat und setze mich an die Seite der LDPD 1 .«
Haase stieg daraufhin auf das Podium, auf dem nur Vertreter der SED und der Blockparteien saßen, entfaltete unter großem Beifall des Publikums ein Schild mit der Aufschrift »Neues Forum« und setzte so den
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