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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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erlebten etwas Ungewöhnliches. Es war groß, uns bisher nicht bekannt gewesen. Benennen würden wir es später: Wiedergeburt des mündigen Bürgers.
    Aus zwei Kirchen strömten die Menschen zusammen, Anwohner und Passanten schlossen sich ihnen an, schließlich zogen 10 000 Menschen durch die Kröpeliner Straße und das Kröpeliner Tor in die August-Bebel-Straße zum Gebäude der Staatssicherheit. Dort stellten wir Kerzen auf, auf den Fenstersimsen, den Treppenabsätzen und direkt neben den Posten, die gestiefelt und in Uniform an der Eingangstür standen. Anfangs haben wir uns noch nicht getraut, laut zu rufen.Wir standen nicht wie andere Städte im Blickpunkt der Öffentlichkeit, hatten keine Westjournalisten dabei und wussten noch nicht, wie weit wir gehen konnten. Wir begannen zu klatschen, in dem Rhythmus, den wir aus dem Westen kannten: Ho Ho Ho Tschi Minh - natürlich ohne den Ruf. Einmal stimmten ein paar Menschen den Refrain der Internationale an:
    Völker hört die Signale
Auf zum letzten Gefecht!
Die Internationale
erkämpft das Menschenrecht!
    Mehr Text kannten sie nicht. Mit einem sozialistischen Ideal aus der alten Hymne der Arbeiterbewegung zogen sie gegen die sozialistische Wirklichkeit. Doch nicht viele stimmten ein. Noch gab es keine gemeinsame Erfahrung im Widerstand, kein gemeinsames Lied, man spürte unsere kulturelle und politische Armut. Aber wir waren auf der Straße! Endlich und tatsächlich. Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, ich hätte es nicht geglaubt. Ich hatte vergessen, wozu wir fähig waren.
    Am nächsten Tag stand in der Ostseezeitung , wir hätten die Werktätigen gestört, sie hätten doch morgens früh aufstehen und arbeiten müssen, auch die Kinder hätten nicht schlafen können. Doch die Sachsen dankten uns unsere Initiative. »Mecklenburg schläft nicht«, stand auf einem Transparent der Leipziger Montagsdemonstration am 23.Oktober 1989.
    Ja, der Norden war aufgewacht. Es vollzog sich ein unglaublicher Wandel.Völlig unbekannte Menschen kamen zu uns, auch Menschen, die weder getauft noch konfirmiert waren. Einige mussten wir darauf hinweisen, dass man die Mütze abnimmt, wenn man ein Gotteshaus betritt. Sie lernten auch das Vaterunser. Gemeinsam übten wir Lieder. Allerdings sprang der Funke nicht immer über. Lieder von Wolf Biermann und »We shall overcome« waren unseren Jugendlichen eher peinlich, das waren die Songs ihrer Eltern. Viele Besucher der großen Fürbittandachten kannten auch keine Choräle. Da haben wir mit voller Orgelbegleitung immer und immer wieder den großen Choral gesungen:
    Sonne der Gerechtigkeit,
Gehe auf zu unsrer Zeit;
Brich in deiner Kirche an,
dass die Welt es sehen kann.
Erbarm Dich, Herr!

    Kraft kam über uns. Gemeinsam würden wir es schaffen! Es war die Zeit der Gemeinschaft.
    Staat und Partei fürchteten die Demonstrationen, erklärten sie anfangs für illegal. Sie waren verunsichert, schwankten zwischen Angeboten zum Dialog und einem Konfrontationskurs. Am Morgen des nächsten Donnerstag, es war der 26. Oktober, erreichten uns sogar warnende Anrufe von Arbeitern aus verschiedenen Betrieben: Parteisekretäre würden Genossen und Mitglieder der Kampfgruppen zur Teilnahme an dem Fürbittgottesdienst aufrufen. Wir waren alarmiert. War eine Provokation geplant, ähnlich der in Schwerin, wo Parteikräfte drei Tage zuvor - glücklicherweise erfolglos - versucht hatten, die Demonstration des Neuen Forum zu vereinnahmen und sogar Waffen an Funktionäre hatte ausgeben lassen?
    Am Mittag fand ein Treffen im Rathaus statt, das erste Treffen zwischen Staat und Opposition. Ich war einer der vier Unterhändler von Seiten der Kirche. Unter großem Zeitdruck sicherten beide Seiten Gewaltlosigkeit zu - das war das gemeinsame Interesse. Wir versprachen, für die Sicherheit bei der Demonstration zu sorgen, und der Staat verpflichtete sich, den Einsatz der Volkspolizei auf die Regelung des Verkehrs zu beschränken. Wenige Stunden später warb ich in der Marienkirche für diese Taktik vor Tausenden von Bürgern, unter die sich Hunderte Genossen und Stasi-Mitarbeiter gemischt hatten, meist schnell erkannt von ihren Banknachbarn aufgrund ihres auffällig zurückhaltenden Benehmens: »Wir möchten euch jetzt sagen: Verzichtet auf jede Art Gewalt gegen Personen oder Sachen! Auch die anwesenden Gäste aus den SED-Betriebsparteiorganisationen sowie den Kampfgruppeneinheiten bitten wir, dieser Aufforderung zu folgen. Ihnen speziell sagen und zeigen wir:

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