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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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Hier geschieht nichts Unrechtes. Hier suchen Menschen nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Zukunft.«
    Was wir damals nicht wussten: Seit Mitte Oktober scheinen SED und Staatssicherheit in Rostock die gewaltsame Unterdrückung der Demonstrationen nicht mehr ernsthaft erwogen zu haben. Am 26. Oktober wies Einsatzleiter Oberst Amthor die
Einsatzkräfte an: »Wir dürfen nicht schießen, wenn wir schießen, schießen wir uns die Entwicklung kaputt … Auch wenn bei den Beschimpfungen und Beleidigungen unser Herz blutet und der Finger juckt.« Demonstrationen seien, schwenkte auch Oberbürgermeister Henning Schleiff Ende Oktober um, ein legitimes Recht der Bürger. Nur: Wer garantiere, dass sie gewaltlos bleiben würden? Da mit der Volkspolizei tatsächlich die Regelung des Verkehrs während der Demonstrationen abzusprechen war, bildeten wir ein Bürgerkomitee, das dem Rat der Stadt und der Volkspolizei künftig als Ansprechpartner zur Verfügung stehen würde. Am 9. November wurde die »Sicherheitspartnerschaft« zwischen der Bürgerbewegung und der Volkspolizei offiziell aus der Taufe gehoben. So kam es, dass wir das Stasi-Gebäude erst vor gewaltbereiten Jugendlichen schützten, als sie Überwachungskameras herunterzureißen versuchten, bevor wir es fünf Wochen später besetzten - selbstverständlich friedlich, mit Hilfe der Volkspolizei. Für uns waren Partei und Stasi wichtigere Gegner, wir setzten auf die Polizei - absurd genug -, um in einer revolutionären Situation die Ruhe aufrecht zu erhalten.
    Die gewaltfreie Taktik erschien uns allerdings realpolitisch die einzig vernünftige Lösung, denn wir dachten, wenn die Gewalt erst einmal anfängt, können wir sie nicht mehr stoppen. Gleichzeitig bekannten wir uns, die wir mehrheitlich aus kirchlich inspirierten Kreisen kamen, zur gewaltlosen Bürgerrechtsbewegung von Martin Luther King. Auch wir wollten politische Reformen durch Gewaltfreiheit. »Gewaltlosigkeit ist die Macht, die aus der Liebe und der Wahrheit kommt«, sagte ich im Gottesdienst am 26. Oktober. Aber: »Gewaltlos für das Neue zu kämpfen, hat nichts mit Verschlossenheit und Kraftlosigkeit zu tun. Männer, die gestern der Lüge dienten, treten heute zurück. Sie wissen nämlich, was wir wissen: Neue Männer braucht das Land - und neue Frauen braucht das Land! Und hier und überall stehen sie: Unser Land hat neue Menschen!!!«
    Es stimmte: Die Verstummten und vom bangen Schweigen Genormten begannen zu reden und waren auch bereit, zu handeln.
Die bisher so Ängstlichen und Angepassten reihten sich ein in den Protest. Überraschend umstandslos vollzog sich beim aktiven Teil der Bevölkerung der Wandel von der Haltung der Gefolgschaft zur Haltung der Ermächtigten. Ungeahnte Potenzen wurden freigesetzt. Freiheit, wenn sie jung ist und Befreiung heißt, ist wie ein Frühling - die Tage werden heller, und ein stürmischer Wind bringt Wärme, die das alte Eis schmelzen lässt.
    Es war Glück.
    Ich spüre es noch heute im Brief an meine Kinder Christian, Martin und Gesine im Westen, den ich einen Tag nach diesem Fürbittgottesdienst verfasste:
    Immer wieder an diesen Tagen, fast die Woche über, lösten Tränen Freudenausbrüche ab. Eine Wahnsinnszeit! Die Marienkirche war noch voller als eine Woche zuvor: etwa 7000 Menschen pressten sich in ihren Mauern, draußen vor der Kirche waren Lautsprecher angebracht, Tausende standen um die Kirche. In St. Petri, Michaeliskirche und Hl.-Geist-Kirche waren gleichzeitig dieselben Gottesdienste. Am Schluss kam es dann zu der erwarteten Demonstration …
    So zogen ca. ab 22 Uhr an die 30 000 (!) Menschen los. Als ich endlich auf die Kröpeliner Straße kam, war die Spitze des Zuges schon vor der Stasi. Viele Transparente wurden gezeigt: »Demokratie«, »Freie Wahlen«, »Neues Forum«, »Weg mit dem politischen Strafrecht«, »Reisefreiheit«, »Egon, wir sind nicht die Olsenbande«, usw. usw. In den Straßen mit Bewohnern sollten die Menschen etwas ruhiger sein, was sie auch taten. Bei der Stasi ging es dann aber hoch her: »Stasi raus«, Pfiffe, »Stasi in die Produktion!«. Dann vor dem Rathaus: »Freie Wahlen«, »Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will«. Schließlich die Auflösung am Kröpeliner Tor, so wie wir die Menschen gebeten hatten. Kein Ordner, aber total diszipliniert! Keinerlei Zwischenfall. Nur: in jedes erreichbare Fenster des Stasi-Gebäudes hatten Demonstranten brennende Kerzen gestellt, dicht an dicht.Vor den großen Toren ebenfalls.

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