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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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Art Redaktionssitzung bereiteten wir die Gottesdienste vor: Welches Thema sollte im Mittelpunkt stehen, welcher biblische Text und welche Lieder eigneten sich am besten? Wir verlasen Aufrufe der neuen Bewegungen, meldeten Erfolge aus anderen Regionen. Besonders erfreut und ermutigt hat uns ein Dokument aus dem sächsischen Plauen. Dort hatte sich der Wehrleiter der Freiwilligen Feuerwehr am Tag nach der großen Demonstration in Plauen auf nahezu Schwejksche Weise an den Rat der Stadt gewandt:
    Die Freiwillige Feuerwehr distanziert sich und verurteilt aufs Schärfste das Vorgehen mit Tanklöschfahrzeugen gegen Bürger anlässlich einer Kundgebung am 7. Oktober im Bereich Otto-Grotewohl-Platz und Umgebung!
    Das zweckentfremdete Einsetzen von Tanklöschfahrzeugen als Wasserwerfer gegen fast ausschließlich fast friedliche, unbewaffnete Bürger und Kinder vereinbart sich auf keiner Weise mit den Aufgaben der Feuerwehr entsprechend dem Brandschutzgesetz vom 19.12.1974!
    Durch diesen sinnlosen Einsatzbefehl des Einsatzleiters der VP [Volkspolizei] wurden Leben und Gesundheit der bis dahin überwiegend friedlichen Bürger gefährdet sowie Löschfahrzeuge und Leben und Gesundheit der Besatzungen unverantwortlich aufs Spiel gesetzt …
    Wir erwarten zu diesen Maßnahmen eine Stellungnahme der staatlichen Organe!
    Als wir merkten, wie viele Menschen unter das Dach der Kirche strömten, wurden zunächst drei, später vier Kirchen geöffnet, wo exakt dieselben Texte gelesen, dieselben Lieder gesungen und dieselben Informationen weitergegeben wurden. Die meisten kamen in die große Marienkirche; am 19. Oktober standen 5000 Besucher eng aneinandergepresst im Kirchenschiff und schwitzten, obwohl es bitterkalt war. »Selbstgerechtigkeit tötet, Gerechtigkeit rettet« hatten wir den Predigttext überschrieben. Ich spürte die Erwartung der Menschen, die alte Angst wie die junge Hoffnung.
    »Was einmal voller Leben und Kampf für Freiheit und Recht war«, sagte ich dann, »kann entarten, sich in das krasse Gegenteil verkehren. Wie der Glaube an Gott degenerieren kann zu entleerten Ritualen, so kann es mit gesellschaftlichen Entwicklungen geschehen. Welch ein Unterschied: ›Die Internationale‹, das Lied der Kämpfer auf den Straßen, wenn es heute auf den Festen der herrschenden Kreise erklingt! Vor den Tribünen ziehen noch immer Menschen vorbei, rituelle Gesänge und Sprüche und die Macht zwar ergraut, aber stabil dem Volk gegenüber - fern, ganz
fern. Und in derselben Stadt, demselben Land Menschen über Menschen, die einfach weglaufen, weil sie nichts mehr hoffen. Und solche, die plötzlich ihrer Angst ›Auf Wiedersehen‹ sagen und den aufrechten Gang trainieren.«

    Im Herbst 1989 in der Rostocker Marienkirche - noch formulierte ich Träume: »Ich gehe zur Arbeit und kann sagen, was wahr ist. Ich sitze in der Kneipe, rede, schimpfe und lache und sehe mich nicht um nach der ›Firma‹. Ich betrete Chefetagen und Ämter der Volkspolizei und werde behandelt wie ein mündiger Bürger.«
    Ich konnte nicht weitersprechen an dieser Stelle, verstummte, führte mit mir einen inneren Monolog: »Hast du den Mund nicht zu voll genommen?«, während mich die Botschaft gleichzeitig überwältigte. Auf einem Tonbandmitschnitt hört man das lange Schweigen, dann klatschten die Menschen Beifall. Es brach aus ihnen heraus, Lachen und Weinen gleichzeitig.
    Ich spürte förmlich die Energie, die von diesen Menschen
ausging. Was als Ermutigung begann, würde als Ermächtigung enden. Und wir würden nicht mehr schweigen: »Wir wollen nicht in Schizophrenie unser Leben verbringen. Wir wollen hier leben in Wahrheit und Gerechtigkeit. Wir wollen nicht mehr hätscheln und entschuldigen, was uns krank macht. Wir wollen Recht Recht und Unrecht Unrecht nennen … Wir wollen dabei lernen, unsere eigenen Ängste zuzulassen. Wie Václav Havel sagte: ›Die Macht der Mächtigen lebt von der Ohnmacht der Ohnmächtigen. ‹ Es gibt genug Stasi-Leute um uns herum, wir suchen die Stasi nicht in uns.«
    Die Menschen standen unter Hochspannung, nach dem dona nobis pacem strömten sie hinaus auf die Straße. Dort warteten bereits junge Leute, um endlich auch in Rostock loszuziehen. Einer trug einen bunten Schmetterling mit der Aufschrift »Gewaltfrei für Demokratie«. Hinter diesem Zeichen setzte sich spontan der Zug der Rostocker in Bewegung. Es hatte nur eines letzten Schrittes bedurft, um die Aufbruchstimmung aus der Kirche auf die Straße zu übertragen. Wir

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