Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Themenschwerpunkt der Dialogveranstaltung »Parteienpluralismus« in die Praxis um.
Als das Neue Forum am 8. November endlich zugelassen wurde, war es für den »Parteienpluralismus« allerdings zu spät. Der Machtverlust der SED war nicht mehr aufzuhalten. Wir wollten mit deren Funktionären keine partnerschaftliche Zusammenarbeit mehr zur Verbesserung des Sozialismus, wir wollten deren Entmachtung. Mit der Forderung nach freien Wahlen drohte der SED-Führung ein Machtverlust wie den Genossen in Polen.
Unter dem Druck von Egon Krenz, Günter Schabowski und Hans Modrow trat die Regierung Willi Stoph am 7. November zurück. Damit war auch Erich Mielke entmachtet, der berüchtigte Leiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Noch kurz vor seinem erzwungenen Rücktritt hatte er aufgrund der »sich zuspitzenden Bedingungen« an alle Leiter der Kreis-und Objektdienststellen den Befehl ausgegeben, »den Bestand an operativen Dokumenten auf den unbedingt notwendigen Umfang zu reduzieren«. Das war die Aufforderung zur begrenzten Aktenvernichtung. Dem entsprachen Informationen über die Verbrennung von
Akten, die wiederholt beim Sprecherrat des Neuen Forums eingingen. Es musste etwas geschehen! In mehreren Städten wurden daraufhin für den 4. Dezember Besetzungen der Stasi-Gebäude geplant.
Noch wenige Wochen zuvor wäre es ein aberwitziges Unterfangen gewesen, die Einrichtungen der Geheimpolizei zu stürmen. Nicht einmal die mutigen Polen hatten eine Besetzung des Sicherheitsdienstes gewagt. Wo auch immer die Kommunisten ihre Herrschaft seit dem Putsch der Bolschewiki 1917 etabliert hatten, hatten sie ein Bollwerk gegen das eigene Volk errichtet, eine Instanz, die als »Schwert und Schild der Partei« (Feliks Dzierżyński), als Geheimpolizei wie als Inlandsgeheimdienst und Terrorgruppe funktionierte. Mochte die Praxis des Sicherheitsdienstes nach dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 bei weitem nicht mehr so blutig sein wie zu Zeiten Stalins, so hatte Erich Honecker doch noch Anfang Oktober 1989 den Befehl zur Unterdrückung der Unruhen gegeben, zugleich waren Bezirks-und Kreiseinsatzleitungen und der so genannte Vorbeugekomplex aktiviert worden.
In dem 1967 vom MfS ausgearbeiteten Vorbeugekomplex war festgelegt, welche Bürger im »Ernstfall« zu verhaften und in Stasi-Untersuchungsgefängnissen oder in »Isolierungslagern« festzusetzen seien. Es war genau vorgegeben, wer wo wen zu verhaften hatte, Lageskizzen der Wohnungen samt Foto der Betreffenden lagen den Unterlagen bei. Im Dezember 1988 umfasste die Liste 84 572 Personen, darunter 9000 aus den Nordbezirken. Als Isolierungsobjekte waren vorübergehend Ferienheime, Gaststätten, Lehrlingsheime, selbst Garagen in unmittelbarer Nähe der Wohnorte vorgesehen. Innerhalb weniger Tagen sollten die Internierten in zentrale Objekte überführt werden - etwa in die Festung Augustusburg im Bezirk Karl-Marx-Stadt, die Platz für 6000 Inhaftierte bot.
Seit Anfang Oktober brachten die Dienststellen des MfS die Listen der zu Verhaftenden und der Internierungslager auf den neuesten Stand. Verantwortlich in Rostock war Generalleutnant Rudolf Mittag; er legte mit dem Bezirkschef der Volkspolizei die
Verfahrensweisen bei der Errichtung »zentraler Zuführungspunkte« fest und befahl, alle Personen zu erfassen, »von denen gegenwärtig eine besondere Gefährdung der staatlichen Sicherheit und Ordnung ausgehen könnte«. Unter dem 23. Oktober werde auch ich als einer dieser »Organisatoren demonstrativer gegen Staat und Gesellschaft gerichteter Handlungen beziehungsweise oppositioneller Sammlungsbewegungen im Bezirk« aufgeführt. Gauck, so heißt es in den entsprechenden Stasi-Unterlagen, habe am 19. Oktober 1989 »zur Teilnahme an der Demonstration durch die Rostocker Innenstadt« aktiviert, und er habe sich »gegen die Politik der Partei-und Staatsführung sowie gegen das Ministerium für Staatssicherheit« gewandt.
Wir haben von der Existenz der Notstandsszenarien und des »Vorbeugekomplexes« zwar erst nach Erstürmung der Stasi-Zentralen erfahren, hielten gewaltsames Vorgehen aber wohl bis in den November hinein immer noch für möglich. Wir hatten das Kriegsrecht in Polen von 1981 in Erinnerung. Andererseits war die befürchtete gewaltsame Konfrontation bei der Leipziger Demonstration am 9. Oktober ausgeblieben, und es gab bereits die Erfahrung mit der Linie »Keine Gewalt« in der »Sicherheitspartnerschaft«. Honecker und Mielke waren zurückgetreten, in Partei und
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