Winter in Maine
hörte sie vor sich hin murmeln, als ich den Tee aus der Küche brachte. Sie saß auf dem Stuhl und strich über die Grünlilie, die einzige Pflanze, die so nah am Feuer stehen konnte.
Ist ein schönes Bild, wie Sie da auf dem Stuhl sitzen, sagte ich.
Das war der Tag, an dem ich Claire kennenlernte. Am nächs ten Tag kam sie wieder und ein paar Wochen später noch mal, und da wir uns bei Einbruch der Dunkelheit immer noch unterhielten, blieb sie bis zum Morgen, schlief neben mir im Bett, und schon bald legte ich den Arm um sie, sie ließ es zu, wir wärmten uns, und bevor wir schliefen, bat sie mich, den Mantel auszuziehen, weil ich doch Gesellschaft hätte. Ich spürte sie neben mir kichern.
Sie sagte, ich sähe aus wie eine Strohpuppe, eine blonde Vogelscheuche mit blauen Augen, deren Füße über die Ma tratze ragten. Ich sei so groß, dass man mich mit meinem blassen, schneeweißen Gesicht, den blauen Augen und blonden Haaren meilenweit sehen könne.
Ja, es stellte sich heraus, dass ich vom Kopf bis zu den Zehen 1,89 m maß, das war mir neu, denn ich hatte mir nie groß Ge danken darüber gemacht, sondern mich, wenn ich ein anderes Haus betrat, meistens unwillkürlich gebückt, was aber sowieso nicht oft vorkam. Sie sagte, ich sei der schönste Mann, der ihr je begegnet sei, und das klang seltsam aus dem Munde einer Frau, die jeden Mann hätte haben können. Aber sie war in ihrem Mantel aus dem Wald getreten und hatte sich für mich entschieden. Ich war glücklich, fühlte mich so wohl wie seit Lebzeiten meines Vaters nicht mehr. Ich lag neben ihr und musste wieder daran denken, was mich im Dunkeln umgab: ein einfaches Leben, die Matratze auf Kisten, der Stuhl mit dem roten Samtkissen, auf dem mein Vater immer saß und Shakespeare las, ja, das beste Möbelstück im Haus, und das gute Rosenthal-Porzellan für den Tee, zwei Tassen mit Untertassen. Es gab viel, wofür ich dankbar sein musste.
Sie fragt e, ob meine Eltern mir fehlten.
Beide schon lange tot, sagte ich, und das war die Wahrheit. Sie fragte mich, was passiert sei, und ich erzählte ihr, mei ne Mutter sei gestorben, als ich durch ihren Körper glitt, um meine ersten Atemzüge zu machen. Ich habe sie durch meine Geburt umgebracht, sagte ich.
Du hast sie nicht umgebracht, entgegnete Claire. Und sie ist nicht tot, nicht in deinen Gedanken, sagte sie und berührte meine Stirn. Ich zuckte zurück, weil ich nicht gewohnt war, dass mich jemand berührte.
Ihre Worte gefielen mir besser. Aber es stimmte, dass ich meine Mutter umgebracht hatte, sie war der erste Mensch, den ich umgebracht hatte, das konnten keine Worte unge schehen machen. Es hatten nur ein paar Augenblicke gefehlt, und ich hätte sie noch am Leben gesehen. Nachts sprach ich oft mit meiner Mutter, flüsternd, in der Hoffnung, dass ein letzter Rest von ihr mich hören konnte, ein Abdruck, den sie auf einem Kerzenhalter hinterlassen hatte, ein Atemhauch, der noch an dem Fenster klebte, aus dem sie eines Morgens geblickt hatte.
Wenn die Liebe einen Widerhall hinterlässt, sagte ich, dann ist meine Mutter noch bei mir. Wenn nicht, dann ist mir nichts von ihr geblieben.
Die Sommersonne machte die Tage immer länger, und schon bald fiel der Blick aus dem Fenster auf gelbe, dunkelrote und lila Blumen. Schmetterlinge schwebten durchs üppige Gras und in die Stängel hinauf, flatterten grün und braun durch den Morgen. Claire kam immer wieder aus St. Agatha her über, einem kleinen französischen Städtchen am Long Lake, gut dreißig Kilometer östlich von mir, wo sie in der Nähe ihrer Eltern wohnte. Ich fragte sie, warum jemand wie sie mit Ende dreißig noch nicht verheiratet sei, und fügte hinzu, Ende dreißig sei für eine Frau noch sehr jung, denn aus den Büchern wusste ich, dass dieses Thema eine heikle Angelegenheit ist.
Sie antwortete, sie sei mal verlobt gewesen, doch die Bezie hung habe nicht gehalten. Bei diesen Worten musterte sie mich eingehend. Ich wusste nicht, warum sie mich so prüfend anblickte, deshalb nickte ich.
So was kommt vor, sagte ich. Menschen kommen zusam men, Menschen trennen sich.
Da schien sie sich zu entspannen, holte tief Luft und fügte hinzu: Ich glaube, ich werde eines Tages ein Kind haben.
In ihren Augen sah ich eine Tochter, keine Ahnung, war um.
Sie wird bestimmt glücklich, sagte ich.
Claire hielt meine Hand und nickte. Du bist ein lieber Mensch, Julius Winsome. Dann lachte sie und sagte: Vor ein paar Wochen habe ich bei einem Waldspaziergang einen
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