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Winter in Maine

Winter in Maine

Titel: Winter in Maine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerard Donovan
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brachten mir meinen Vater noch deutlicher in Erinnerung. Jetzt konnte ich hören, wie er die Seiten umblätterte und mich zu sich rief, wie er mir eine gute Stelle zeigte und mich fragte, was ich davon hielte, und dann lauschte er die ganze Zeit meinen Worten, nickte und sagte, für einen kleinen Jungen sei ich sehr klug. Er hatte eine liebenswürdige Art.
    Eine Stunde verstrich, und die Kälte schleuderte Steine in meine Finger und Knie, die Muskeln zerrten an meiner Wir belsäule. Außerstande, die Kälte länger zu ertragen, schleppte ich mich auf die Lichtung hinaus und hob die Plane an, um mir ein paar Holzscheite zu schnappen. Der aufgehende Mond knipste im Wald sein eigenes Licht an.
    Niemand schoss auf mich, als ich die Scheite in die Hütte schleppt e, niemand schoss, als ich die O fentür öffnete, die Scheite aufschichtete und das Papier darunter anzündete, nie mand schoss, als ich Teewasser heiß machte und mich mit der Shakespeare- Liste auf den Gartenstuhl setzte, niemand schoss, als ich die erste Seite vors Feuer hielt und im Licht der Flammen unter der glühenden Pfeife die Wörter las. Der Abend war gekommen, und die Dunkelheit schlich mit ihren eigenen Waffen, hauptsächlich Einsamkeit und Stille, an den Wänden entlang und zielte damit aus allen Ecken gleichzeitig auf mich. Leichtsinnig versuchte ich, das Feuer weiter anzufachen, bis ringsum alles von Rauch erfüllt war und ich die Hüttentür öffnen musste, damit er abzog und zusammen mit der warmen Luft in die Nacht hinauswirbelte. Schlecht für die Bücher und meine Lunge, für Augen und Atem. Ich stellte mich an die Tür und beobachtete, wie er in der Dunkelheit verschwand. Wenn sie auf mich warteten, war jetzt der Moment gekommen.
    Als der Rauch größtenteils verschwunden war, ging ich wieder hinein und zog die Stiefel aus, um meine Socken in der Wärme dampfen zu lassen. Urplötzlich hatte ich mich in meinen Vater verwandelt, so läuft das anscheinend. Im Feuer schein sah ich mir eine weitere Liste an: Entmummen bedeutete entdecken, blankziehen ein Schwert ziehen und gefitticht schnellfüßig. Ich roch wieder die Tinte, mit der ich die Wörter geschrieben hatte, vor fast vierzig Jahren, spürte die Beschaffenheit des Papiers und den Blick meines Vaters, während ich die Buchstaben schnörkelte, und der Trost seiner Gesellschaft kam mir vor wie ein Mullverband um meinen Körper.
    38
    Der Tod meines Vaters war abgemessen wie eine tassenweise geschluckte Substanz, die sein Leben beenden sollte, klaglos und würdevoll hingenommen. Ein Jahr lang war sein Atem stetig flacher geworden, und die Entfernungen zwischen den Einrichtungsgegenständen im Haus, die Schritte vom Bad zum Stuhl, vom Stuhl zu seinem Bett, wurden für ihn immer länger. Es war gut, dass er gern las, denn Lesen erfordert kein zusätzliches Atmen, und tagsüber merkte man kaum, dass der Tabak seine Lunge zerfraß, nur morgens und abends, wo er sich, hauptsächlich in den letzten Monaten, die Seele aus dem Leib hustete.
    Der Arzt in Fort Kent horchte jedes Mal sorgfaltig Brust und Lunge ab und schüttelte den Kopf, wenn ich mit ihm sprach, während mein Vater draußen im Wagen wartete. So machten wir das - der Arzt gab mir den Befund, und ich sagte es meinem Vater, der Arztbesuche verabscheute, das war die einzige Möglichkeit, ihn dort hinzubekommen: Ich erhielt die Botschaft und übersetzte sie. Meistens sagte der Arzt, er solle aufhören, Pfeife zu rauchen, und ich übersetzte es als: Du sollst weniger rauchen.
    Beim letzten Mal stieg ich zu ihm in den Wagen. Und?, fragte er.
    Der Arzt sagt, dass du noch einen Monat zu leben hast. Das ließ sich nicht übersetzen.
    Mit einem Nicken sagte er: Tja, das war zu erwarten. Mach dir keine Sorgen, Julius. Du kannst dich um das Haus und die ganzen Bücher kümmern.
    Schweigend fuhr ich ihn nach Hause. Ich fragte mich, ob meine Mutter wohl auf ihn wartete, und wenn ja, wo, ob der Mann, den ich kannte, derselbe war, den sie kannte, und dach te, dass ich ihn nie gefragt hatte, was ich von meiner Mutter hatte und was von ihm. All das ging mir durch den Kopf, während ich ihn schweigend nach Hause fuhr.
    Drei Wochen später stand er nicht mehr vom Stuhl auf, und ich hüllte ihn in Decken, schob ihm ein Kissen hinter den Kopf und ließ das Feuer brennen, obwohl schon April war. Er schlief auch dort, und aus ein paar Holzscheiten errichtete ich einen Schemel. Sein Atem ging immer lauter, zwei Tage lang hatte er Schüttelfrost. In dieser Zeit

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