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Winter in Maine

Winter in Maine

Titel: Winter in Maine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerard Donovan
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konnte er nicht mehr sprechen. Ich sah, wie sich seine Pupillen verengten, und wusste, dass er mich sehen konnte, dass ich noch in seinen Augen war. Ich lenkte mein Spiegelbild durch seine Augen, ging mit Holz scheiten fürs Feuer und anderen Sachen hin und her, um ihm das beruhigende Gefühl zu geben, dass ich da war und ihn nicht allein ließ. Am dritten Tag kam seine Stimme zurück, er bat um etwas Shakespeare, als würde er in einem Restaurant irgendwas von der Speisekarte bestellen, und ich wartete bei den Regalen, bis er sich etwas ausgesucht hatte.
    Ich nehme die Gedichte, sagte er, während ich seinen Hin terkopf betrachtete.
    Im Nu brachte ich ihm das Buch: Gesammelte Sonette, er schienen 1843 in London. Dann las er in singendem Tonfall daraus vor:
    Die Zeit de s Jahres kannst du an mir sehn / Wenn, kaum mit wenig gelbem Laub behangen / Die Zweige zittern in der Fröste Wehn ...
    Er hielt inne, während das Wort in seiner schwachen Stim me nachklang, und wartete einen Augenblick, bevor er die nächste Zeile zu lesen begann. Ich ging um den Stuhl herum und stellte mich vor ihn. Lächelnd blickte er mich an. Ich erwiderte seinen Blick, und nach einer Weile erkannte ich, dass seine Pupillen nichts wahrnahmen, dass kein Licht mehr zu ihnen durchdrang, und von da an war ich nicht mehr in ihm, sondern nur noch in mir selbst. Ich konnte ihm nichts mehr erzählen, ihm nicht mehr sagen, wie gut ich dies oder jenes gemacht hatte.
    Von weit her kamen Männer, mit dem Zug oder mit dem Auto, das letzte Stück bis zum Friedhof zu Fuß, und nahmen diesem Mann zuliebe, der mit ihnen beim Militär gewesen war, am Grab Haltung an. Die kleine Kirche in Fort Kent hatte selten erlebt, dass so viele Corporals, Sergeants und einfache Soldaten zusammen an einem Grab standen. Ich sah Schlach ten in ihren Augen, die von vielen längst vergessen waren, die einige gar nicht kannten, und bemerkte, wie manche von ihnen mit ihm in das Loch in der Erde fielen, ich meine den Teil von ihnen, der sich an ihre Angst und die Trümmer ferner Städte erinnerte, den Teil, der gehofft hatte, dass es hinterher besser sein würde. Das erhoffen die kämpfenden Soldaten sich immer, hatte mein Großvater gesagt, aber wie es weitergeht, wird von Leuten entschieden, die nicht gekämpft haben. Von jenem Tag bis zu dem Augenblick, in dem Claire viele Jahre später aus dem Wald trat, gelang es mir, allein zu leben, vielleicht aus Gewohnheit, vielleicht auch meinem Vater zu Ehren. Ich lernte den Verlust kennen, er war mir nicht fremd, da mich jeder Winkel und jede Bank in Fort Kent an meinen Vater erinnerte, all die Orte, an denen er gewesen war. Wie oft - gerade in den Wochen direkt nach seinem Tod, dem Tod eines Mannes, mit dem ich die ersten dreißig Jahre meines Le bens verbracht hatte - ging ich an seinem Grab vorbei, wenn ich Milch und Brot kaufen wollte, und fragte mich, ob man so eine Erfahrung wie eine Lampe ausschalten konnte.
    Ich saß im Dunkeln und dachte an diese Dinge, um mich zu beruhigen, vielleicht zu meiner Sicherheit, ein kleiner Trick der Natur zum Schutz von Julius Winsome.
    Das Feuer brannte hell, und es kam immer noch keine Ku gel durchs Fenster geflogen, doch dieser Freitagabend kam mir lang vor, denn ich lauschte auf Gespenster im Wald und träumte halb von Claire, vermutlich weil ich sie in kurzer Zeit zweimal gesehen hatte, doch die Träume und das Lauschen tauschten oft ihre Plätze, während ich zwischen beiden auf dem Stuhl saß, mal träumte, dass Claire lauschte, mal sah, wie sie mit einem Gewehr in der Hand im Wald stand, mich beobachtete und darauf wartete, dass ich aus der Hütte kam. Sie schießt, ich halte mir ein Buch vor die Brust, die Kugel bohrt sich in die Wörter und bleibt stecken, bevor sie in mein Herz dringen kann.
    Ich hatte genug vom Schießen.
    39
    Erst als ich am nächsten Morgen auf dem Stuhl erwachte, wusste ich, dass ich in der Nacht geschlafen hatte. Von den letzten Stunden vor Tagesanbruch, die ich in tiefem Schlaf und ohne Decke verbracht hatte, fühlte ich mich wie gerädert. Steifbeinig ging ich an den Bücherregalen entlang, durch den dunklen Gang. Ich klatschte in die Hände, um mich aufzu wärmen. Wasser für den Tee, das Feuer, neue Scheite vom Holzstoß und keine Fußspuren auf der Lichtung, das war gut. Ein schöner, frischer Samstagmorgen, der Himmel blau, eine Wolke, von einem leichten Wind getrieben, die Ruhe vor dem Frost, einen Tag vor dem Fest. In Fort Kent würden die Kinder aus dem Bett

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