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Winter in Maine

Winter in Maine

Titel: Winter in Maine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerard Donovan
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in der Gegend, besser als jedes Loch tief im Wald. Ich saß hinter einem Fern seher, den alle anstarrten.
    Die nächste Stunde verbrachte ich damit, dem Stakkato der schnellen, ängstlichen Worte zu lauschen - die zunehmenden Beweise, das schwindende Licht in St. Agatha, eine großkali brige Kugel, eine Art Gefechtsmunition, Opfer sofort tot, und dann: Die Polizei hat eine Spur, Fußspuren. Ich konnte die Bilder nicht sehen, die die Stimme der Reporterin begleiteten, aber ich hatte die Fußspuren sowieso schon gesehen. Das Kinn in die Hand gestützt, beugte ich mich näher heran. Die Polizei hat eine Spur, na klar. Ich merkte, dass sie nicht die Wahrheit sagte, denn ihr Tonfall änderte sich, das Timbre. Man hatte sie gebeten, das zu sagen, um den Täter aufzuscheuchen.
    Als ich das Gefühl hatte, dass es Zeit zum Aufbruch war, stand ich auf und ging, aber für die Leute im Cafe muss es ausgesehen haben, als sei ich dem Fernsehen entstiegen und käme mit den Worten auf sie zu: Ich bin der Mörder all die ser Männer. Seht ihr mich nicht? Draußen fiel mir auf, wie leer plötzlich die Straßen waren. Vielleicht weil es dunkel war und ein Mörder frei herumlief. Der Supermarkt hatte früh geschlossen, die Lichter ringsum brannten nicht mehr, und ich musste mich dicht zur Anschlagtafel beugen, denn die Schrift auf dem Plakat war winzig: Rate mal, wer deinen Hund erschossen hat.
    Von dem Schreiber war nichts zu sehen, aber es war seine Schrift, das d war genauso geformt wie auf den anderen Pla katen. Also hatte ich den Scheißkerl. In diesem Fall hatte ich kein Recht gehabt, den anderen Mann heute zu erschießen. Aber er kam nicht mehr in Frage, genauso wenig wie alle anderen, die nicht im Wald bei der Hütte jagten. Wenn es zu weiteren Vorfällen kam, würden sie sich von jetzt an nur noch dort ereignen, auch wenn das auflange Sicht Aufmerksamkeit erregte. Und ich behielt den Schal im Gedächtnis. Ich würde den Mann wiedererkennen.
    Neben meiner Karteikarte hing ein Blatt, auf das jemand mit schwarzem Leuchtstift geschrieben hatte: »Gesucht wird der Mörder von Henri Dupre am Long Lake. Hinweise auf den Täter an die Sheriffbüros von Fort Kent oder St. Agatha.« Das war kein offizielles Plakat. Ein wütender Bürger. Ich überlegte, ob ich eine Zielscheibe um das Wort »Mörder« zeichnen und es mit einem X durchkreuzen sollte, aber dafür gab es keinen Grund, es hatte keinen Sinn, so grausam zu sein.
    Ich nahm meine Karte von der Tafel. Es hatte wieder zu schneien begonnen, dichter, wirbelnder Schnee. Bald war es Zeit, die Schneeketten anzulegen und eine Schaufel mitzu nehmen, damit ich mich freigraben konnte, wenn ich von der Straße rutschte, besonders oben im Wald. Ganz plötzlich war die Jahreszeit dafür gekommen. Und sie würde fünf, sechs Monate dauern.
    Am Morgen hatte ich Hobbes' Sachen weggeräumt, bevor ich nach St. Agatha fuhr. In der Hütte konnte ich nirgends hin blicken, ohne ihn zu sehen, und alles, was da war, kollidierte in mir immer wieder so stark mit dem, was weg war, dass ich mich eine Weile hinsetzte und beschloss, die Sachen wegzuräumen, sein Kissen und seine Bürste und alles, und im Zimmer gegenüber von meinem Schlafzimmer zu verstauen, wo mein Vater früher geschlafen hatte. Und was sollte ich auch mit dem Seil anfangen, an dem er immer zog, mit dem Knoten, den ich hineingeschlungen hatte, um es besser festhalten zu können? Ein kleiner breitbrüstiger Terrier ist erst dann richtig glücklich, wenn er am anderen Ende eines Seils zerren kann, knurrend und zugleich mit dem Schwanz wedelnd, als Zeichen, dass er spielt. Wenn ich so geistesgegenwärtig gewe sen wäre, hätte ich ihn mitsamt dem Seil begraben, doch in zwischen hatte ich das Gefühl, dass er nicht zu einem anderen Leben erwachen würde und kein Spielzeug mehr brauchte, dass es für ihn diese Welt oder keine war. Alles, was er im Leben geliebt hatte, beschwor sofort sein Bild herauf, einen Hund aus Gedanken, durch Gedanken hervorgebracht und festgehalten, und wenn man sich einmal der Erinnerung überlässt, kommt man nie wieder los.
    Ich erinnerte mich nur an Teile von ihm, die durch einen so schmalen Spalt hereindrangen, dass nicht alle auf einmal hindurchpassten, oder es gab nur soundso viele Erinnerun gen, und mehr waren nicht möglich: Er schlief auf dem Sofa, mit dem Kopf zur Schlafzimmertür, er weckte mich morgens mit gebleckten Zähnen, denn manche Hunde können lächeln, und dasselbe passierte, wenn ich den ganzen Tag

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