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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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Monate zuvor hatte Winston Churchill in einer Rede am Westminster College in Missouri erklärt, dass sich ein Eiserner Vorhang quer durch ganz Europa herabsenke. Er hatte die Tschechoslowakei als das einzige Land bezeichnet, das hinter diesem Vorhang liege, aber zugleich eine Demokratie sei. Dieser duale Status entsprach der Realität; es gab noch eine Chance. Vom sowjetischen Block so gut wie eingeschlossen, konnte die Tschechoslowakei noch wählen – und sogar nochmals wählen; welchen Platz das Land schließlich einnehmen sollte, war noch nicht entschieden.
     
    Z u den gern gesehenen Gästen der Botschaft in Belgrad zählte Jan Masaryk, ein Mann, in dem die Freude ständig mit der Trauer zu ringen schien. Um die Zeit der Wahlen von 1946 kam er in unsere Wohnung und bat meine Mutter um eine Schlinge. »Ich brauche sie«, sagte er. »Ich möchte den Kommunisten nicht die Hand geben.« Diesen Witz erzählte er häufig unter Freunden. Die Ironie der Geschichte war, dass er tatsächlich anfällig für Schmerzen war und manchmal eine Armschlinge brauchte. An jenem Abend begleitete er meinen Vater zu einem Empfang, den Tito gab. Eine üppige Auswahl an Delikatessen und Wein wurde aufgetischt, und das in einem
Land, in dem es vor hungernden Kindern nur so wimmelte und wo kaum Geld für Krankenhäuser oder Schulen beiseitegelegt wurde. Masaryk, der solche Anlässe noch nie gemocht hatte, regte sich furchtbar auf. Schließlich fragte er meinen Vater: »Haben Sie ein Klavier zuhause?«
    Die beiden Männer verabschiedeten sich eilig und kehrten in die Botschaft zurück. Der Außenminister setzte sich, nachdem er den Schlips abgelegt hatte, an das Klavier und sang gemeinsam mit meinem Vater alte tschechische Lieder. Nach der Erinnerung meines Vaters verlor sein Partner »sich schon bald in seinen Melodien und seinen Gedanken«. Die Atmosphäre in dem Raum wurde ungewöhnlich vertraulich – in Anbetracht des Altersunterschieds von 23 Jahren zwischen den beiden Männern und der professionellen Basis ihrer Beziehung. Um die natürliche Ordnung wiederherzustelle oder vielleicht um meinen Vater davon abzuhalten, allzu viel hineinzudeuten, drehte Masaryk sich mitten in einem Lied zu ihm um. »Sie Dummkopf«, sagte er, »entscheiden Sie sich endlich, ob Sie Tenor oder Bass sind. Ich vermag so manches, aber Ihre Stimme kann ich nicht ändern.« 31
    Meine Mutter hatte einen Kreis Freundinnen, alte und neue, mit denen sie starken, türkischen Kaffee trank und einem ihrer Lieblingshobbys frönte: aus dem Kaffeesatz wahrsagen. Für dieses sogenannte Kaffeesatzlesen legt man die Untertasse oben auf die Tasse, dreht die Tasse um, wartet ein paar Augenblicke und untersucht anschließend zuerst den Kaffeesatz in der Tasse und dann in der Untertasse. Die Bedeutung einer bestimmten Form verändert sich, je nachdem ob die Gestalt oben, rechts, auf dem Boden oder links liegt; Tropfen und Klümpchen haben besondere Bedeutungen, und für jene, die den nötigen Glauben besitzen, haben Vorhersagen eine garantierte Genauigkeit von 40 Tagen.
    Neben der Vorhersage von Schwangerschaften und dem plötzlichen Auftreten gutaussehender Fremder widmete sich meine Mutter dem Kartenspiel. In der Regel spielte sie Rommé mit mir. Den größten Teil ihrer Zeit verbrachte meine Mutter jedoch mit der Leitung des Botschaftspersonals. Sie musste dafür sorgen, dass wir genügend zu essen für uns und für Gäste hatten. Zu diesem
Zweck ließ sie manchmal auch lebende Lämmer aus dem Dorf holen; sie sprangen dann laut mähend in der Küche herum, bis aus ihnen das Abendessen wurde, das ich für meinen Teil nicht essen konnte.
    Tito hatte einen vollen Terminplan mit öffentlichen Auftritten in seinem Land, kam aber nur selten zu diplomatischen Empfängen. Als unsere Botschaft eine Party zum tschechoslowakischen Nationalfeiertag plante, war mein Vater nicht sonderlich beunruhigt, als er erfuhr, dass der Regierungschef die Einladung abgelehnt hatte. Er war allerdings überrascht, als eine Stunde vor Beginn Titos Chefkoch mit Körben voller Lebensmittel auftauchte und zielstrebig die Küche ansteuerte.
    Der Partisanenführer kam um Punkt fünf, lange vor den meisten Gästen. Es war einer jener Anlässe, bei denen Kathy und ich die Aufgabe hatten, Blumen zu verteilen. Wir überreichten dem großen Mann ein Sträußchen weiße Rosen (das er später vergaß und eigens holen ließ); er bedankte sich und wir gaben uns die Hand. Dann wurde der Diktator sehr zum Ärger

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