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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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August. Der ungarische Vertreter sprach als Erster. Er zeichnete ein beklemmendes Bild von dem Leiden, das seine Landsleute in der Slowakei bereits erduldet hatten, darunter der Verlust des Besitzes, des Arbeitsplatzes, der Schulen, der Rentenansprüche und des Wahlrechts. Er räumte zwar ein, dass sein Land Deutschland während des Krieges unterstützt hatte, dementierte jedoch, dass es eine bedeutende Rolle bei der Auflösung der Tschechoslowakei oder der Auslösung des Konfliktes gespielt habe. Hitlers zynische Manipulation der Minderheitenrechte vor dem Krieg, argumentierte er, rechtfertige keineswegs ihre Beseitigung, und verwies als Beispiel auf die Notwendigkeit, die Juden zu beschützen. Zusammenfassend drängte der ungarische Vertreter die Konferenz, übereilte Aktionen zu vermeiden und stattdessen eine internationale Expertenkommission ins Land zu schicken, um die Lage vor Ort zu prüfen. Mit einem weiteren Seitenhieb zeigte er einen Gegensatz zwischen der engstirnigen Politik der gegenwärtigen tschechoslowakischen Regierung und den hehren Idealen Tomáš G. Masaryks auf. Als er nach drei Stunden
zum Ende kam, wurde die Konferenz auf den nächsten Morgen vertagt. aj
    Die Tschechoslowaken mussten eine Antwort vorbereiten. Clementis war in der Angelegenheit besser informiert als die anderen Mitglieder der Delegation, konnte als Slowake aber voreingenommen erscheinen. Mein Vater und seine Kollegen beschlossen, dass unser überzeugendster Redner Jan Masaryk die Antwort vortragen sollte. Das hatte jedoch den Nachteil, dass Masaryk die Details des Themas nicht kannte und dass er im privaten Kreis, bis zu einem gewissen Grad, Sympathie für die Ungarn äußerte. Die Delegation traf sich mit ihm um 21 Uhr im Hotel Athenée, um die Punkte auszuarbeiten, die er am nächsten Morgen hervorheben sollte. Ein Arbeitskreis wurde gebildet, um einen Entwurf zu verfassen. Mein Vater erinnerte sich:
    Um zwei Uhr kam Masaryk zu uns. »Also, Jungs«, sagte er, »schauen wir uns doch mal an, was ihr produziert habt und was ihr mir zu sagen vorschreibt.« Er überflog unseren sorgfältig formulierten Text, machte eine Pause von ein oder zwei Sekunden und sagte dann mit einem entwaffnenden Lächeln: »Das ist großartig; ihr seid alle Politologen höheren Kalibers; die ganze Delegation besteht aus lauter Talleyrands. Aber um Himmels Willen verlangt nicht von mir, dass ich alle diese hochgestochenen Begriffe verwende. Ich könnte sie nicht mal aussprechen. Ich würde rot werden. Warum sagen wir nicht geradeheraus, was Sache ist?«
    Er zog sich in sein Zimmer zurück und fing an zu schreiben. Um fünf war er fertig; der Text wurde frisch abgetippt und vervielfältigt. Um zehn trat Masaryk ans Rednerpult. Mitglieder der Delegation zogen ihre Kopien hervor, um seinen
Äußerungen zu folgen. Zu ihrer Verblüffung ließ Masaryk den Text in der Tasche und hielt eine seiner großartigsten Reden. 32
    Diese Anekdote sagt mehr über Masaryk (und die Bewunderung meines Vaters für den Mann) aus als über das Ziel, die Ungarn aus ihren Häusern zu vertreiben. Der Außenminister trug in der Tat eine hervorragende Rede vor, aber er versäumte es, die tschechoslowakische Position darzulegen. Stattdessen sagte er: »Genau wie mein Land, bin ich ein sehr schlechter Hasser«, und äußerte seinen Wunsch nach Frieden. 33 Er forderte die Delegierten auf, sich daran zu erinnern, dass sich die Ungarn schon damals unablässig beschwert hätten, als sie in der ersten Republik noch die Rechte genossen hatten, die sie in Kürze verlieren sollten. Die Tschechoslowaken, so Masaryk, hätten ihr Bestes getan, um für den Minderheitenschutz einzutreten, und seien für ihre Mühe betrogen worden. Man könne es ihnen fairerweise jetzt nicht zum Vorwurf machen, wenn sie wütend seien.
    Verblüffenderweise brach der Außenminister an der Stelle ab. Er machte keinen Versuch, die Zwangsvertreibung der Ungarn zu verteidigen, und sagte zu den Statistiken, die sein Vorredner zitiert hatte, lediglich, dass er sich »heute nicht mit ihnen befassen werde«. Als die tschechoslowakische Ergänzung fünf Wochen später zur Abstimmung kam, baten die Amerikaner darum, sie an einen Unterausschuss »zur weiteren Prüfung« zu verweisen, eine höfliche Methode, sie sterben zu lassen. Statt auf einer Abstimmung in der Angelegenheit zu drängen, fügte sich Masaryk mit einer »außerordentlich bewegenden Rede«, wie der für gewöhnlich neutrale amerikanische Protokollführer

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