Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
»Wir brauchen Kredite, um unsere industrielle Basis wieder zu beleben.« 37
Der sowjetische Führer erhob sich und bedeutete den anderen, ihm zu folgen. Er zeigte auf eine Landkarte Europas, die auf seinem Schreibtisch ausgebreitet war. »Sehen Sie sich Ihr Land an, und sehen Sie sich Deutschland an«, sagte er. »Wir sind die Einzigen, die euch vor dem Wiedererstarken der deutschen Macht beschützen können. Warum wollen Sie also den Vertrag mit uns brechen, jenen Vertrag, den Beneš im Jahr 1943 schloss?« Diese Frage, mit der kaum verhohlenen Drohung, machte jede weitere Diskussion überflüssig. Die Nachkriegstschechoslowakei hatte zwar von Deutschland nichts zu befürchten, aber die Menschen des Landes hatten, kaum zwei Jahre nach Kriegsende, vor nichts anderem Angst. Kein Politiker konnte dagegen ankommen. Um alle Bedenken zu zerstreuen, bot Stalin an, der Tschechoslowakei eine große Menge dringend benötigten Weizens zu verkaufen.
An jenem Abend in Moskau ging Drtina ins Theater, während sich Masaryk bedrückt in sein Zimmer zurückzog. Beide Männer wussten genau, dass es eigentlich gar nicht um Wirtschaft, sondern um Machtpolitik ging. Stalin war entschlossen, die Vereinigten Staaten aus dem Gebiet, das er als seine Einflusssphäre betrachtete, auszuschließen. Weder die Tschechoslowakei noch ein anderes Land in Mittel- und Osteuropa konnte an Außenminister Marshalls Plan teilnehmen, ohne dem Kreml die Stirn zu bieten. Aber dazu fühlten sich alle außerstande. Widerwillig riefen die beiden
Männer am nächsten Morgen das Kabinett in Prag an. Sie empfahlen eine Annullierung des Beschlusses, einen Repräsentanten nach Paris zu schicken.
Nach der Heimkehr wurde Masaryk von Marcia Davenport gefragt, wie er von Stalin behandelt worden sei. »Oh, er ist sehr gnädig«, kam die Antwort. »Er würde mich umbringen, wenn er könnte. Aber sehr gnädig.« 38
A merikanische Diplomaten äußerten häufig ihre Enttäuschung darüber, dass Beneš und Masaryk, obwohl sie echte Demokraten waren, kaum sichtbare Anstrengungen unternahmen, sich aus der sowjetischen Umklammerung zu befreien. Beneš entgegnete darauf, dass die Vereinigten Staaten dieses Unterfangen erschwert hätten, indem sie sich bei der Pariser Friedenskonferenz auf die Seite Ungarns geschlagen hätten. Masaryk erklärte, das Einzige, was wirklich eine Rolle spiele, sei zu verhindern, dass sich die Sowjets in die inneren Angelegenheiten der Tschechoslowakei einmischen. Was machte es Washington denn schon aus, wenn seine Regierung bei den Vereinten Nationen gegen die USA stimmte? Diese Abstimmungen beeinflussten in den seltensten Fällen das Ergebnis, während sein Land Zeit brauche, wenn es den Kommunismus überdauern und wiederum den Status einer unabhängigen Demokratie erlangen wolle. Er äußerte sein Bedauern darüber, dass Botschafter Laurence Steinhardt wegen Budgetkürzungen nicht größere Anstrengungen unternahm, über Hilfslieferungen, Kulturaustausch und Propaganda mit den Sowjets um die Beliebtheit im Volk zu wetteifern.
Das State Department stimmte keineswegs zu, dass das ablehnende Abstimmungsverhalten der Tschechoslowakei bedeutungslos sei, und war alles andere als beeindruckt von dem Einknicken der Regierung beim Marshallplan. Aus den Telegrammen Steinhardts geht hervor, dass die Botschaft in erster Linie damit beschäftigt war, die antiamerikanische Berichterstattung zu mäßigen und für amerikanische Investoren, die Aktien von verstaatlichten Unternehmen hielten, eine Entschädigung durchzusetzen. Der Botschafter sprach sich gegen wirtschaftliche Unterstützung aus, weil diese womöglich
den Kommunisten helfen könnten und weil er überzeugt war, dass eine harte Linie bewirken werde, dass die »Czechos«, wie er sie nannte, voll erkannten, wie dringend sie den Westen brauchten. Steinhardt räumte die Anfälligkeit der Tschechoslowakei für eine Reihe von sowjetischen Druckmitteln ein, etwa die Kontrolle strategisch wichtiger Punkte, die Mediendominanz, den Einfluss innerhalb der Gewerkschaften und die Tatsache, dass das Land von kommunistischen Regimen fast völlig umschlossen war. Aber statt einen Plan auszuarbeiten, um die Gemäßigten zu unterstützen, begnügte sich die Botschaft damit, an der Seitenlinie zu sitzen und von dort aus scharf zu schießen.
Dieser Mangel an Initiative war doppelt bedauerlich, weil Steinhardt beachtlichen Einfluss in Washington hatte. Der einst erfolgreiche Wall-Street-Anwalt hatte mit seinen
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