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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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betraf die drei Millionen Deutschstämmigen, die in erster Linie im Sudetenland d , in enger Gemeinschaft mit den Tschechen, lebten – und das bei einer Gesamtbevölkerung des Staates von rund 13 Millionen Einwohnern. Alle deutschen Versuche, die Region für unabhängig oder zu einem Teil Österreichs zu erklären, erhielten keine internationale Unterstützung und wurden prompt und in einem Fall sogar brutal von der tschechoslowakischen Armee unterdrückt. Die Anführer der Sudetendeutschen weigerten sich im Gegenzug, an der Ausarbeitung einer Verfassung oder der Gestaltung des Parlaments mitzuwirken. Masaryk trug nicht gerade zur Entspannung bei, als er in seiner Antrittsrede »unsere Deutschen« als ein Volk bezeichnete, »die ursprünglich als Emigranten und Kolonisten ins Land gekommen« waren. Es war mit Sicherheit falsch, einer Bevölkerungsgruppe den Status Bürger zweiter Klasse zuzuweisen, die seit Jahrhunderten in dem Land lebte. Tief betroffen über die Kritik versprach der neue Präsident die Wahrung der Rechte aller, die dem Staat ihre Loyalität erwiesen. Er hielt es für unerlässlich, dass sich die Minderheiten am Aufbau eines einigen und blühenden Landes beteiligten. Diese Vision wurde in der Verfassung von 1920 verwirklicht, die Männern wie Frauen das Wahlrecht, die Versammlungs- und Redefreiheit und die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz garantierte. e Dennoch war Masaryk Realist und sagte seinen Beratern, dass für den Aufbau einer echten Demokratie 50
Jahre ungestörter Frieden erforderlich seien. Er könne allenfalls darauf hoffen, in der ihm verbleibenden Lebenszeit einen soliden Grundstein zu legen.
    Und genau das tat er auch. Das erste Jahrzehnt verlief zum großen Teil vielversprechend. Politische Parteien wurden gegründet, an denen sich Tschechen, Slowaken und Deutsche gleichermaßen beteiligen konnten. Deutschstämmige wurden als Minister ins Kabinett berufen. Damit war die Tschechoslowakei das einzige Land in Europa, in dem eine Minderheit so gut repräsentiert wurde. Auf allen Ebenen wurden allgemeine und freie Wahlen durchgeführt, mit gleichem Stimmrecht für alle. Da die Presse frei war, konnten die Bürger ohne Angst ihre Meinung äußern. Es gab weder politische Gefängnisse noch Folter oder gar ein offiziell sanktioniertes Verschwinden von Menschen. Die Legislative wurde vom Parlament ausgeübt und vom Fünferrat geleitet, einem informellen Gremium aus führenden Vertretern der großen Parteien. Es gab so viele Fraktionen, dass keine einzige es schaffte, die anderen zu dominieren. Insofern mussten sich alle mäßigen. Kommunisten, Faschisten und Separatisten waren gesetzlich erlaubt, operierten aber am Rand des öffentlichen Lebens.
    Die neue Regierung schickte sich an, den egalitären Geist der tschechischen Tradition in eine politische Linie umzusetzen. Unter dem alten Regime hatten die drei wohlhabendsten Familien einen ebenso großen Besitz wie die 600 000 ärmsten. In der Republik verloren deutsche und ungarische Adlige ihren Titel, die kaiserlichen Güter wurden aufgeteilt und eine Obergrenze für den Landbesitz eingeführt. Verstaatlichte Ländereien wurden zu einem geringen Preis an unabhängige Bauern verkauft.
    Unterdessen profitierten in städtischen Regionen die Arbeiter von der Einführung einer modernen Sozialgesetzgebung, einschließlich eines Acht-Stunden-Arbeitstages, Erwerbsunfähigkeitsrenten und Altersrenten. Masaryk, der Professor mit Leib und Seele, legte großen Wert auf die Bildung, von der ersten Klasse bis zur Universität, insbesondere in Regionen wie der Slowakei, die bislang schlecht versorgt gewesen waren. Aus wirtschaftlicher Sicht war die Tschechoslowakei ein Erfolg. Die Währung war stabil, der Haushalt ausgeglichen,
und der Export von Textilien und Glaswaren florierte. Der innovative Geist, der im 19. Jahrhundert erwacht war, blühte weiterhin auf. Im Jahr 1930 belegte das Land bereits den zehnten Platz unter den Industrienationen. Zu den bekanntesten Markennamen zählten Automobile von Škoda, Bier aus Pilsen, Prager Schinken und die Schuhfabrik Bata – deren Konzernhauptquartier in Zlin 75 Meter hoch war und einen klimatisierten Aufzug samt Waschbecken hatte.
    Die tschechoslowakischen Repräsentanten wurden auch in der Weltpolitik respektiert und erwarben sich mit ihrer Unterstützung der Abrüstungsbemühungen, des internationalen Rechts und Friedens hohes Ansehen. Von Masaryk hieß es, dass er, wenn es dieses Amt gegeben hätte,

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